Naturkundliche Etüden in loser Folge


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Denn Politikkunde wäre auch Naturkunde…

Anläßlich einer Podiumsdiskussion auf dem ehemaligen Aussiedlerhof Groß in Stühlingen am 28. Juni 2024 eingedenk 500 Bauernkrieg.

Denn tags zuvor war es in Stühlingen zu Überschwemmungen aufgrund eines lokal stundenlang anhaltenden starken Regenfalls mit Hagel gekommen. Auf den Feldern um den ehemaligen Groß-Hof, auf der Gemarkung Pfeiferäcker mit einer Höhenspitze um 671 Hm., versickerte das Wasser nicht mehr und lief oberflächlich auf dem maschinenverfestigten Boden ab, auf dem noch junger Mais stand. Das Wasser lief vor allem – einzig aufgehalten teilweise durch die Straßenböschung – in eine trichterartig modulierte Wiesenmulde. Das Gras wurde dort durch den Wasserstrom platt gewalzt. Den Wiesentrichter muß man sich axial gekappt vorstellen und der tiefste Punkt mündet in eine steil abfallende Kluft eines Muschelkalkabfalls, die in das Weilertal weist. Auf der Topographischen Karte »Stühlingen 1:25.000« des Landesvermessungsamtes Baden-Württemberg ist er gut am großen »Ü« von Stühlingen zu erkennen. Die Fluchtlinie zeigt auf das Stühlinger Schwimmbad. Vor Jahren war hier schon einmal eine Mure abgegangen. Es geschah im Winter. Der Boden war gefroren. Das Wasser des einsetzende Regenfalls konnte ebenfalls nicht oberflächlich versickern und suchte sich seinen Abflußweg hier. Genau diese Stelle, der springende Punkt, wurde – von wem auch immer & vielleicht sogar gut gemeint –  mit Schutt verfestigt, was am 27. Juni wie ein beschleunigtes Sprungbrett gewirkt haben musste.

Die Gewalt des Wassers riß das hier anstehende lockere Muschelkalkgestein mit sich und zwar bis auf Höhe des Wanderwegs der hangparallel vom Friedhof zum Schlauchweg führt. Dort befindet sich auch das Schuttgestein, das man oben verfestigt hatte. Danach riß sich das Wasser ein metertiefes Bett auf – wahrscheinlich in der Schicht des Wellendolomit –, das bis wenige Meter oberhalb des Weilerbaches reichte. Das Wasser gelangte so in den Weilerbach, der sich zusätzlich gespeist vom oberen Weilertal dann am Bregenzer-Areal staute, wo er zunächst unterirdisch unterm Kroneparkplatz kanalisiert nach dem jetzigen Grundschulgebäude, der ehemaligen Realschule, wieder zu Tage tritt. Das Wasser schoß bereits am Kroneparkplatz aus einem Gully über und floß von dort letztlich in den souterrain liegenden Werkraum und die Schulküche. Das Wasser konnte sich danach natürlicherweise auch nicht mehr im offen kanalisierten Bett halten. Das Altenheim, das im Schwemmareal des Baches situiert wurde, ist logischerweise ebenfalls überschwemmt worden. Es liegt etwa auf 450 Höhenmetern. Nach den Erfahrungen mit den vergangenen Überschwemmungen von Bächen in Schleitheim und Grimmelshofen war diese Überschwemmungskatastrophe in Stühlingen eine mit Ansage.

F. Schalch hat in seinen Erläuterungen zur geologischen Karte »Blatte 8216 Stühlingen« das Schichtenprofil des ehemaligen Steinbruches – da wo jetzt die Sportschützen hinschießen – im Weilertal ausführlich beschrieben. Dort steht der Wellenkalk des unteren Muschelkalkes an, der eben schiefriger, mergeliger ist als die Steine des mittleren und oberen Muschelkalks. Steigt man auf der Mure auf Höhe des Wanderweges ein Stück weiter nach oben, sieht man an den Seitenwänden ebenfalls krösiges Steinmaterial. Das dürften die Tonsteine und Mergel des mittleren Muschelkalkes sein, so wie es auch von Christoph Hebestreit in seinem geologischen Führer der Wutachregion auf S. 25 ausgewiesen ist. Die Schicht des Aufschlusses des ehemaligen Steinbruches, etwas weiter unten versetzt, ist mit seiner Unteren Muschelkalk-Mächtigkeit von 15 Metern zu gering, als daß sie hier herauf reichte. Auffallend ist, daß bereits bei Schalch genau im Ausgang der jetzigen Mure die Schuttkegel der Vergangenheit schematisch unübersehbar eingezeichnet sind. Die Schwachstelle für den Stühlinger Kernort, die bei einem Extremwetterereignis zu Tage tritt, ist also nach der geologischen Karte von Schalch seit über 100 Jahren bekannt.

Von Seiten des Gemeinderates hörte man verschiedentlich, daß ein bereits im Gespräch gewesenes Rückhaltebecken im Weilertal zu teuer für Stühlingen gewesen sei. Es wäre eine zweistellige Millioneninvestition nötig gewesen, so ein Gemeinderat. Das mag stimmen und die Versicherungsschäden an Schule und Altenheim dürften immer noch »günstiger« sein, wenn es denn bei diesem einen Male bliebe. Eine andere Frage berührt einen ökologischen Aspekt, der sich auf den Arealen des Schloßberges manifestiert, wo viel Wasser nicht mehr versickern konnte, aber offenbar in der öffentlichen Diskussion keinerlei Rolle spielt. Die Kalk-Hochebene ist überall dort, wo landwirtschaftsmaschinenverfügbar, ausgeräumt und bodenverdichtet. Was heißt ausgeräumt? Es existieren so gut wie keine Heckenstrukturen mit Hindernischarakter, keine Gräben, keine Tümpel mehr, keine Gehölzinseln; alle Landstrukturierungen, die einer maximalen Bewirtschaftung im Wege sind, wurden eingeebnet. »Flurbereinigung« nennt man’s euphemistisch. Vordergründig mag man die für die Landwirtschaft zur Verfügung stehende Fläche so vergrößert haben, eben um einer gewünschten Maximierung des Ernteertrages willen. Langfristig und unter ökologischen Aspekten hat man die zur Verfügung stehende Fläche indes verkleinert, indem man eben oberflächenvergrößernde Strukturen wie oben beschrieben elimeniert hat und damit auch eine radikale Reduzierung von Flora und Fauna in Kauf genommen. Bei einem Ereignis wie am 27. Juni tritt vor allem diese Strukturarmut deutlich zu Tage. Statt wenigsten um den bekannten gefährlichen hot spot die Bodenfläche zu vergrößern, d. h. Hindernisse für den ungezügelten Wasserabfluß zu schaffen, wurde durch das Ausplätten mit Schutt die Fläche eher noch verkleinert und damit die Wasserfließgeschwindigkeit vergrößert.

Am Tag nach diesem Extremwetterereignis, am 28. Juni 2024, fand auf dem Betriebsgelände des ehemaligen Schloßberger Groß-Hofes eine Podiumsdiskussion statt. Das Motto hieß »Landwirtschaft woher – Landwirtschaft wohin?« Diskutiert haben eine Ministerialsekretärin aus Stuttgart, zwei Vertreter des Regierungspräsidiums, der eine zuständig für Landwirtschaft, der andere für Naturschutz, ein Vorstand der örtlichen Sparkasse, ein Vetreter des Deutschen Bauernverbandes, vielleicht ein Stellvertreter des Bauernpräsidenten, und zwei Vertreter des regionalen Bauernverbandes, einer nannte sich »Genußvertreter« der Bauern aus dem Südschwarzwald. Ein Conferencier vergab Redezeit. Namen tun im Grunde nichts zur Sache, den in der funktionalen Argumentation waren alle Redeteilnehmer berechen- und austauschbar. In der Hauptsache ging es um Geld, Bürokratie, Digitalisierung, Regionalvermarktung, über das Zuwenig oder Zuviel – über all das, was den Bauern in den vergangenen Monaten gehörig auf die Nerven gegangen war und zu den Protesten geführt hatte. Das Stichwort gab die wegfallende Dieselsubventionierung und speziell in Stühlingen ärgern sich die einheimischen Bauern über den geldmarodierenden Landkauf der Schweizer Bauern, die zudem nicht den Restriktionen von EU-Vorschriften unterliegen. Das alles ist diskussionswürdig. Aber um die Art und Weise der Bodenbewirtschaftung ging es nicht. Der regierungspräsidiale Vertreter des Naturschutzes aus Stuttgart kam über die Phraseologie, daß der »Naturschutz« doch auch den Bauern zugute käme nicht hinaus. Was er praktisch darunter versteht, blieb offen.

Wären alle Teilnehmer vom Podium herabgestiegen und vor die Scheune getreten, hätten man im Kleinen, im Kern zeigen können, was in der Landwirtschaft gefördert von einer jahrzehntelangen Landwirtschaftpolitik alles schief läuft. Man kann viel über »Klimaerwärmung« reden – unsinnige CO2-Zertifikate kamen einmal auf dem Podium zur Sprache – , über die Art und Weise wie die gängige Landbewirtschaftung vor Ort Auswirkungen von Extremwetterereignisse begünstigen und damit Kosten verursachen, darüber schweigt man geflissentlich. Es wäre das zunächst liegende, was man ändern könnte, wenn man’s überhaupt wollte.

Stühlingen hat nun mit dem hier gezeigten Murenabgang, der die verschiedenen Schichten des Muschelkalkes aufzeigt, zumindest ein schönes Naturdenkmal bekommen. Möge er als Studienobjekt dienen. Wenn man die paar Meter des Wanderpfades über die Steine geht, fühlt man zudem ein wenig alpine Stimmung. Alpensicht hat der Wanderer dann erst am oberen Ende der Mure. Daß ausgerechnet die feldflurbeackernden Trekkerfahrer öfters und länger in den Genuß der Sichtachse Richtung erhabener Alpenberge und noch älterer Juraberge kommen, ist nun wirklich eine unverdiente ästhetische Gabe. [Andreas Mahler, September 2024]


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Diesen Schuh muß sich keiner anziehen…

Der heimische gelbe Frauenschuh (Cypripedium calceolus) zählt zu den prächtigsten wild wachsenden Orchideen in Europa und steht unter strengem Naturschutz. Zur Zeit blüht die Pflanze trotz des nassen Wetters in den Wäldern um Stühlingen. Die Volksbenennungen sind zahlreich. In Gotha heißt sie »Maienblume«, in Tuttlingen «Pfaffenschlappen«, im Thurgau »Hoselätz«, bei uns »Fraueschüehli«. Die im Elsaß gebräuchliche Bezeichnung »Venusschuh« kommt der wissenschaftlichen Bezeichnung noch am nächsten. Der gelbe Schuh entsteht durch Umformung eines inneren Kronblattes. Er wird zu einer Kesselfalle, in welche Insekten wie etwa die Sandbienen fallen, die durch Farbe und Aprikosenduft angezogen werden. Die so gefangenen Insekten können nur durch den Geschlechtsapparat wieder entkommen und bestäuben dabei die Pflanze. Nahrung bietet der Frauenschuh keine und zählt somit auch zu den Täuschblumen. Mitunter verstecken sich im Schuh räuberische Spinnen, womit die Blüte zum tödlichen Verhängnis für manch angelocktes Insekt wird. Der Frauenschuh gedeiht auf Kalkboden im Halbschatten lichter Buchen- oder Fichtenwälder oft mit weiteren Orchideenarten zusammen und benötigt die Symbiose eines speziellen Bodenpilzes. Im Wald auf dem Schlossberg konnte in den vergangenen Jahren gut beobachtet werden, wie durch Forstwirtschaft ein zirka 1 Ar großer Standort mit bis zu 50 Exemplaren fast vollständig verschwunden ist. Unbedacht verstreuter Rindenabfall und Verbuschung nach einem Kahlschlag haben Cypripedium ihren Lebensraum genommen. Die einen werden sagen: »Das ist der Gang der Dinge«. Die anderen: »Büsche und Bäume gibt’s genug um Stühlingen. Warum hat man die halbschattige Waldatmosphäre nicht für den Frauenschuh erhalten?« [Andreas Mahler, zuerst publiziert in Badische Zeitung, 13. Juni 2016]


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Winterliche Hirschzungen-Assoziationen
In den Wintermonaten tritt die Flur plastischer hervor. Die harten Kontraste dominieren, vor allem bei Schnee. In den Wäldern herrschen Durchsichten, die in den blätterentwickelten Jahreszeiten wieder verschwinden. Auf Burg Radegg bei Osterfingen etwa sieht man durch Flaumeichenstämme auf ein Gewässer hinunter, das der Blätterwald mit beginnendem Frühling wieder verbirgt. In der Wutachschlucht heben sich die dunklen Baumstämme gegen die ockergelben und grauen Varianten des Muschelkalkes ab. Die Gesteinsformationen lassen sich aus mittlerer Entfernung gut unterscheiden. Auch manche Pflanzen fallen im Winter besonders ins Auge.
Zwischen Grimmelshofen und Achdorf in den Wutachflühen ist es das Hochgrasgrün des Hirschzungenfarns, der noch nicht die Konkurrenz der Blütenpracht der Samenpflanzen zu befürchten hat. Die Hirschzunge kommt hier nicht massenhaft, aber dennoch vermehrt vor. Sie steht unter strengem Naturschutz, da die Pflanze sonst ob ihrer heilkräuterlichen Wirkung wohl bald ausgerottet wäre. Die Hirschzunge bildet ungeteilte Blätter aus, sieht also nicht wie ein klassisch einheimischer Farn aus. Sein Grün ist leicht glänzend, als ob jemand ihm die Blätter lasiert hätte. Diese wachsen bis zu 60 cm und mehr lang, sind büschelig gestellt und länglich lanzettlich; am Grunde herzförmig ausgebuchtet, bevor sie in den kleinen Stengelstamm übergehen.
Ich gehe davon aus, daß nur ein Bruchteil der Samenpflanzenfans sich mit Farnen näher beschäftigen. Denn letztere besitzen eben keine farbigen Blütenblätter, welche die Fortpflanzungsorgane verhüllen und das menschliche Sehempfinden entzücken. Die Geschlechtsorgane der Farne sind in den sogenannten Sori auf der dunkleren, feuchtigkeitshaltenden Unterseite des Blattes mehr oder weniger unscheinbar versteckt. Beim Hirschzungenfarn (Phyllitis scolopendrium) sind sie leicht schräg lanzettlich gegen den Mittelnerv gestellt. Die Sori bergen die Sporangien. Die darin befindlichen Antheridien und Archegonien bilden die Keimzellen aus. Im wässrigen Medium gelangt das Spermatozoid, was kaum mehr ist als ein Zellkern, chemotaktisch durch den Archegonienhals zur Eizelle. Daraus entsteht ein Sporophyt, der das neue Blatt entwickelt. Das alles läuft ohne jegliche Insektenbestäubung ab, deshalb braucht’s keine besonderen Lockblütenstoffe oder ähnliche Bestäubungsfallen. Die Struktur der Blattadern, die auf ein pylogenetisch hohes Alter verweist, bestätigt solch’ unspektakuläre Vermehrung.
Die Hirschzunge wächst gerne in nordexponierten, sickerfeuchten Schluchtenwälderhängen, wie sie die Wutach geschaffen hat. Sie haben sich auch in Brunnenschächten angesiedelt, als es diese noch gab.  Pharmakologisch werden heute die Zucht-Hirschzungen u. a. als schleimlösendes, entzüdungshemmendes Mittel angewandt. Früher war die Anwendung noch vielfältiger. In Hieronymus Brunschwigs kleinem Destillierbuch aus dem Jahre 1500 gibt’s ein Dutzend Anwendungshinweise. Der letzte lautet: »Hyrz zung wasser für schwer grusame und forchtsam tröm die offt von bosheit des miltzes kumment offt und dick getruncken yedes mal uff iii lot.« Wenn das wahr wäre, wäre der abendliche Hirschzungentee ob der Träume gebongt. Hier geht nur Probieren über Studieren.
Die im Zitat angesprochene Milz, die durch die Hirschzunge beruhigt werden kann, ist seit der Antike humoralpathologisch der Melancholie zugeordnet. Im Verlaufe des Mittelalters wird die Melancholie dann zunehmend mit dem Planeten Saturn verknüpft, der wiederum seinen Namen vom römischen Saat- und Ackergott hat. Stand Saturn im wässrigen Zeichen der Fische wurden Überschwemmungen prognostiziert. Saturn war weitgehend zu einem Unheilbringer mutiert bis seine guten Seiten durch die Humanisten wieder rehabilitiert wurden. Das alles dürfte in die heilkundliche Anwendung der Hirschzunge mit hineingespielt haben. Mag das Farnpflanzenblatt wie eine Hirschzunge aussehen und sich so den Namen verdient haben, erinnert die Blattform auch an ein zweischneidiges, lanzettliches Messerblatt. Mit einem solchen ist Saturn ebenfalls ausgestattet, wenn es nicht Sichel oder Sense ist. Auf Einblattdrucken zu Zeiten des Bauernkrieges assoziierte man eine Bauernsperson, die eine Sense, Sichel oder eben eine zweischneidiges Hirschzungenmesser hielt, mit dem Gott Saturn, der oft Unheil verkündend und melancholisch gegen Adel und Klerus auftrat. Sein schlechtes Image rührte auch von seinem griechischen Vorgänger Kronos her. Dieser kam an die Macht, weil er seinem Vater die Genitalien mit einer Sichel oder einem Messer abgeschnitten hatte. Ein gleiches wurde ihm selbst prophezeit. Daher fraß er seine Kinder alle auf bis auf eines… Die Anspielung auf die Gegenwart ist gewollt. Saturn, der Gott des Sähens, tritt momentan in Gestalt von Kronos auf, der seine Kinder (Pflanzen, Vögel, Tiere) eher frißt als daß er sie nährt. Er wird sie – ob er will oder nicht, so wie es phrophezeit ist – alle wieder ausspucken, in welcher Form auch immer.
Aber genug jetzt der unheilvollen Geschichten, auf die man durch die Hirschzunge kommt. Wem’s ob solcher Geschichten schummrig wird, der sollte nach der Rezeptur von Hildgard von Bingen schnell einen pulvrigen Auszug der Hirschzunge vermischt mit warmen Wein trinken. Es wird ihm bald besser werden. Und – um mit etwas Postiven zu enden – halten sich nicht viele Farnfreunde eine Hirschzunge im Wohnzimmer, nicht nur weil sie pflegeleicht ist, sondern ihr glänzendes Immergrün ewiges Leben verheißt. Chronos, Gott der Zeit, läßt grüßen. Man kommt um ihn nicht herum. [Andreas Mahler, Jan./Feb. 2024]


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Fra Angelico und Callimorpha quadripunctaria an Maria Himmelfahrt.

Eine angestaubte Postkarte, die Fra Angelicos Verkündigung Mariens aus San Marco abbildet, steht seit Jahren bei mir zuhause auf einem Schaukasten aus Holz, in den ich verschiedene Fundstücke gestellt habe. Versteinerungen, Schneckengehäuse und anderes mehr. Der Schriftsteller Vladimir Nabokov hatte in seinem Arbeitszimmer in Montreux am Genfer See auf die hintere Brüstungsvertäfelung seines Schreibtisches die gleiche Postkarte gepinnt. Natürlich ein älterer Druck. Seine Tante Elena hatte ihm die Bildkarte aus Italien mitgebracht.

Auf diese an sich unbedeutende Parallele stoße ich letztlich, weil ich seit Wochen auf die Ankunft von Euplagia oder Callimorpha quadripunctaria hier bei mir in Stühlingen warte. »Russicher Bär« oder »Spanische Fahne oder Flagge« sind die geläufigen deutschen Bezeichnungen. In den letzten Jahren war dieser Nachtschmetterling, der auch tagsüber fliegt, regelmäßig Mitte oder gegen Ende Juli beim mir eingetroffen. Raupen habe ich in der Nähe nie entdeckt. Meist habe ich den Schmetterling bemerkt, während er mit seinen geschlossenen Deckflügeln tagsüber auf Efeublättern in Ruhestellung ausgeharrt hat. Das fast schwärzliche Braun mit seinen verblaßt gelben Streifen der Deckflügel fällt dann besonders ins Auge. Spanische Fahne heißt der Falter wegen seiner typischen kadmiumrot-orangen Färbung, die seine Hinterflügel aufweisen und an das spanische Nationalflaggenrot erinnert.

Diesen Sommer hat er sich Zeit gelassen. Ich dachte schon, daß der Schmetterling ausbleibe. Irgendwas müßte dann im Gefüge der Welt nicht in Ordnung sein. Heute an Ferragosto, an Maria Himmelfahrt, nur noch in Bayern offizieller Feiertag, habe ich ihn dann doch noch im Garten fliegen sehen. Vielleicht kennen die meisten diese Schmetterlingsart, weil eine Unterart ssp. rhodosensis auf der Ägäis-Insel Rhodos durch ein merkwürdiges Verhalten auffällt. Zu Tausenden ruhen sie dichtgedrängt an alten Bäumen in einem engen feuchten Tälchen. Solche massenhafte Diapause kommt bei uns in Mitteleuropa nicht vor. In Eberts Die Schmetterlinge Baden-Württemberg wird von einer überstrapazierten Touristenattraktion gesprochen. Ich bin mit meinem Individuum zufrieden. Glaube zumindest, daß es sich stets um dasselbe Exemplar handelt, das sich bei mir ums Haus einrichtet. Einmal flog es durchs offenen Fenster in mehreren Zimmern herum, fand aber wieder unbeschadet heraus. Raupe wie Schmetterling dürften ein breites Spektrum an Futterpflanzen haben. Ebert nennt waldnahe Gärten als Habitat. Das erfüllt mein Garten im doppelten Sinne. Disteln sind nach Wasserdost eine präferierte Blütenpflanze von Callimorpha. Und die lasse ich ja extra stehen. Allerdings sehe ich sie immer nur ruhend oder flatternd.

Worin besteht nun aber die Verknüpfung zwischen meiner verfrühten Vermißtenanzeige, Nabokov und Fra Angelicos Verkündigung? Nabokov hat die Postkarte in seiner akribisch genauen Handschrift beschriftet, wobei er sich auf den in Regenbogenfarben stilisierten Engelsflügel bezog. »A recollection of Iphiclides podalirius with a slight dash of Papilio machaon and perhaps a hint of the day-flying moth Panaxia quadripunctaria. The two blackish stripes of each ›wing‹ correspond to the pattern of I. podalirius in the natural position of rest«. So berichtet es sein Sohn Dmitri, auf den Dieter E. Zimmer in Butterflies and Moths in Nabokov's Published Writings verweist. Vladimir Nabokov selbst verweist auf der Postkarte auf »Portmann, Animal Forms, p. 110, NY 1967«. Also nicht nur Grund, die Fra Angelico Postkarte abzustauben, sondern auch Adolf Portmann Die Tiergestalt. Studien über die Bedeutung der tierischen Erscheinung aus dem Regal zu nehmen, das im Original bei Reinhardt in Basel erschienen ist, und darin die Kapitel »Die optische Gestaltung« und »Von Mustern und Zeichnungen« wieder zu lesen, auf die Nabokovs Verweis gemünzt sein muß.

Im Engelsflügel von Fra Angelico spürt Nabokov also einen Hauch, eine Spur des Russichen Bärens. Panaxia quadripunctaria. Er benutzt nur ein anderes Synonym. In Portmanns Buch finden sich Fragen zu den rhythmenschaffenden Kräften, welche die Flügelmuster ausbilden und zur Semantik der Flügel selbst. Bei ihm, der Zoologe, kann man immer noch lernen, richtige Fragen an die Natur zu stellen. Für Nabokov waren Schmetterlinge, insbesondere die Flügelzeichnung, Offenbarungen, metaphysische Verkündigungen. [Andreas Mahler, August 2023]


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Die Muße als Schule des Sehens

Die Skulptur mit dem Namen „Muße“ von Hans Rußenberger wurde vor kurzem im renaturierten Gebiet der Wutach zwischen Weizen und Stühlingen mit einer kleinen Feier eingeweiht. Die „Muße“ ist ein Geschenk des ehemaligen Kunstvereins Stühlingen an die Stadt Stühlingen. Gleich flußabwärts der Ehrenbachmündung liegt sie nun. Aus fränkischem Kalk gehauen war sie ursprünglich am Schleitheimer Bach situiert. Dort wurde sie von einem Hochwasser weggespült, leicht beschädigt und nun an der jetzigen Stelle plaziert. Ursprünglich angedachte Liegeorte am Mühlebach oder Metzgerbächle mußten aufgegeben werden, weil ungewollt oder vorschriftswidrig. Hier verstößt Die Muße nun gegen keinerlei Vorschrift. Hans Rußenberger gefiel der Gedanke, seine Skulptur in die Verbindung mit einem renaturiertem Wutachabschnitt gebracht zu sehen. Nicht über Form und Gestalt dieser Skulptur will ich nun reden (etwa über die schöne Rückgratlinie – line of beauty, die den Flußlauf aufnimmt), sondern über ihre Rolle als polyperspektivische Reflexionsgestalt.
Heraldisch beschränkt ohne Arme sieht der Fußgänger, der Fahrradfahrer, ja sogar der bundesstraßenfahrende Autofahrer die Figur in der Rückenansicht. Diese Konstellation erinnert mich an Caspar Davids Rückenfiguren in einigen seiner Bilder. Diese sind bei Friedrich nicht einfach Stellvertreter des Bildbetrachters, denn die Bildfiguren-Persepktive ist so, daß sie etwas sehen, was dem Bildbetrachter verborgen ist. Daher entsteht eine Dreier-Konstellation von Bild-Sujet, Bildrückenfigur und Bildbetrachter, in der das Sehen an sich reflektiert wird.
Analoges erfahre ich bei Rußenbergers „Muße“. Was sieht die „Muße“, was ich nicht sehe? Und steige vom Fahrrad. Kann so quasi ins Bild gehen. Der Künstler sagt, daß er seine „Muße“ als Göttin sieht, die eben wie ihr Name besagt, für das kontemplative Nichtstun steht, das jeder Kreativität vorausgeht. Rußenberger will mit seiner Skulptur also den Machern und Tuern – auch den Künstlern – erstmal eine Phase der Muße verschreiben, bevor sie loslegen. Mit seiner Göttinbenennung führt er uns aber zunächst aufs Glatteis einer naheliegenden mythologischen Ableitung. Die griechische Mythologie – die römische ist größtenteils Abklatsch der griechischen – kannte wohl eine Muse als Göttin, aber gar keine Göttin der Muße. Die Muße heißt auf altgriechisch „hē scholē“, auch mit Ruhe oder Freiheit von Berufsarbeiten zu übersetzen. Gleichzeitig bezeichnet hē scholē auch den Ort, wo derartiges lebbar war. Die Schule eben. Schule aber nicht zu verwechseln mit unseren heutigen staatlichen Erziehungsanstalten. Im besten Fall geht man lebenslang in hē scholē. Rußenbergers Muße kann also als Schule der Reflexion an der Wutach aufgefaßt werden. Die Muße produziert zwischen Wutachwasser, Steinen, Sand, Fauna und Flora Leerstellenkonstellationen, in denen noch nicht entschieden ist, wo die Gedanken hinfließen. Subjektiv unendlich viele Möglichkeiten tun sich hier auf.
Wir wollen hier nur einen Gedankenfaden Rußenbergers verfolgen – jenen der Renaturierung. Bis Anfang des 19. Jahrhunderts war die Wutach unreguliert, d.h. vielarmig und sich immer wieder neue Läufe schaffend. Mit der Gründung des Großherzogtums Baden kamen erste provisorische Flußbauordnungen heraus, welche die verwilderten und gefahrdrohenden Flußläufe domestizieren sollten. 1860 waren die gröbsten Regulierungen in die Tat umgesetzt. Die Großherzogliche Oberdirektion des Wasser- und Straßenbaus formulierte 1887 ihr Fazit so: „Durch die Eindämmung der Flüsse ist das im Überschwemmungsgebiet gelegene Thalgelände gesichert, ehemals verödet, nunmehr überall in Kultur genommen. // Diese der Bodenkultur gewonnenen Vortheile haben allmälig eine vollständige Umgestaltung der Verhältnisse bewirkt: der einstmals vom verwilderten Fluss meist in seiner ganzen Ausdehnung beherrschten Thalgrund ist zu fruchtbarem, ertragsreichem Gelände umgeschaffen; da, wo früher auf weite Strecken Kies-, Sand- und Wasserflächen mit Weiden und Erlengebüsch abwechselten und bestenfalls dürftiges Weidfeld sich ausdehnte, finden wir heute gutes Ackerfeld, vorzüglich bewässerte Wiesen und Obstpflanzungen […] Das Alles sind, wenn schon ihr Werth sich ziffermäßig nicht darstellen lässt, segensreiche Erfolge einer Staatsfürsorge, wie sie ausserhalb Badens kaum irgendwo Platz gegriffen hat."
Nachdem die Staatsfürsorge an den ökologischen Nullpunkt von Eindämmung & überdüngten Monokulturen angelangt ist, will man diese Regulierungen zumindest teilweise wieder auflösen. Den Rhein hat man bis 1977 im Gefolge von Tulla eingedämmt, bis Hochwasserschäden, verursacht durch die immer schnelleren Abflußgeschwindigkeiten, die Macher eines besseren belehrt haben. Die heutigen Wasserbauingenieure weisen stets darauf hin, daß es damals – im 19. Jahrhundert – richtig gewesen sei, die Flüsse einzudämmen. Man habe es nicht besser gewußt. Ganz richtig ist die Argumentation nicht. Im Jahr 1720 hatte der Philosoph Giambattista Vico in seinem philosophischen Hauptwerk „Neue Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker“ anhand der mythischen Figur des Herakles dargelegt, daß die Menschen ihre Umwelt nicht übermäßig ohne weitreichende Folgeschäden  ausnutzen können. Vico blieb ohne Einfluß. Natürlich. Denn Macher, Politiker und Ingenieure beispielsweise, lesen gemeinhin keine philosophische Literatur, die zudem auf Erkenntnisse eines mythologischen Andachtsraumes beruhen. In der Moderne wird man gemeinhin erst aus Schaden klug.
Wohin schaut also diesbezüglich Die Muße Rußenbergers? Für mich in den mythischen Andachtsraum des Herakles, der nicht nur in den den dualen, granitrandsteinbegrenzten Gegensätzen von Natur und Kultur gedacht hat, sondern Natur und Kultur als Verschlungenes be- und ergriffen hat. Auf mesopotamischen Rollsiegel aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. ist’s bereits bekundet. Und in die ökologisch-ästhetische Schönheit des „Es war einmal“, wie sie die Zeichnung von Zamponi aus dem Jahre 1845 veranschaulicht mit der Verheißung „Es wird wieder einmal“ mit dem Wutachtal jenseits eines geschlossenen Gewerbeparks von Grimmelshofen bis Waldshut.
Was sagt Die Muße Ihnen? Fragen Sie! Sie antwortet ganz bestimmt.
[Andreas Mahler, Juli 2022]


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Einmal baden bitte!

Die Ringelnatter (Natrix natrix) ist eine weit verbreitete Schlangenart in Europa und bei uns gut erkennbar an den gelben Nackenflecken. Sie bevorzugt feuchte Biotope und besiedelt vor allem Teich-, See-, Bach- und Flussufer. Bei uns an der Wutach war sie zumindest vor einigen Jahren – jetzt, 2022, muß man schon Jahrzehnte sagen –  noch häufig anzutreffen. An deren Bachzuflüssen scheinen die Schlangen manchmal abzuzweigen und gelangen so in die kaum verbauten Hanglagen unterhalb des Städtle. Sie folgen dann dem Korridor aus Hangwiesen und Gärten zwischen Stadtweg und Unterdorf oder den Gärten unterhalb der Höll. Hohlräume in Steinmauern sind hier ideale Verstecke. Die Gartenareale um den Stadtweg 3 erweisen sich dann als letzter Lebensraum für die Reptilien, bevor ihr Weiterzug endgültig in der postalischen Sackgasse endet. Einmal fand sich eine Glattnatter (Coronella austriaca) zwischen den Kartoffeln im Keller, wo sie wahrscheinlich den Winter verschlafen hatte, und man fragte sich natürlich, wie sie ins Haus gekommen ist. Eine weitere mußte ich mittels Sto-Eimer (Foto rechts) im Garten auflesen. Sie hatte sich dort eingeheimischt, aber wer will schon beim Jäten dauernd auf Schlangen achten. Die Ringelnatter auf der Abbildung links flutschte bei heißen Sommertemperaturen auf der Suche nach etwas Feuchtigkeit in die ausrangierte Badewanne, aus der sie aber ob des glatten Randes nicht mehr herauskam. Ich kann mich gut an ihr Zischen erinnern, als ich ihr mit Hilfe eines Stockes heraushalf. Plötzliche und unerwartete Begegnungen mit Schlangen lösen bei den meisten Menschen einen Schrecken aus, der evolutionsgenetisch erklärbar ist. Da Homo sapiens nicht sofort identifizieren konnte, ob eine Schlange giftig ist oder nicht, reagierte er grundsätzlich mit einem Abwehrschreck. Unsere Ringelnatter ist harmlos. Sie stellt sich, so sie keinen Fluchtweg findet, eher tot oder sondert ein scharfe Flüssigkeit ab, bevor sie versucht zuzubeißen. Anders die etwas plumper wirkende Glattnatter. Sie wehrt sich durch Beißen, ist aber nicht giftig. Die Lebensräume beider Schlangenarten schwinden durch intensive Land- und Forstwirtschaft und der Bauverdichtung dahin. Der Schriftsteller Ernst Jünger hat einmal die Lebensqualität eines Ortes mit der Anwesenheit der Schlange verknüpft. Wo sie vorkomme, meinte er, dort sei die Welt noch in der Ordnung. Die Ordnung, die Jünger meinte, dürfte im Jahr 2022 zumindest für Reptilien im Hangkorridor zwischen Stadtweg und Unterdorf durch Bebauung endgültig aufgelöst sein. Der Schwund – um einen weiteren Begriff Jüngers zu wählen – im Lebens-Gefüge ist hier wohl endgültig.

Andreas Mahler, Mai 2022. Zuerst in gekürzter Version am 25. Juni 2016 in der Badischen Zeitung.  


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Mit Wollkleid an der Blüte

In der erste Hälfte des Aprils 2022 gab’s ein großes Auf und Ab der Temperaturen. Als ich das hier abgebildete behaarte Insekt am 9.4. wie schockgefroren an der Blütenknospe des Pfirsichbäumchens hängen sah und das nach Annäherung auch unbeweglich verharrte, schloss ich daraus, daß es erfroren sei. Zu früh herausgewagt und einem Spätfrost erlegen. Aber nach wiederholtem Nachschauen war es dann doch verschwunden. Wäre es tatsächlich erfroren, dann wäre es auch nicht gegen die Schwerkraft an der Knospe hängen geblieben. Auf jeden Fall: das Insekt war gut zu fotografieren und damit auch sicher zu bestimmen. Zuerst dachte ich ob des langen Rüssels an ein kleines Taubenschwänzchen, also einen Schmetterling: ein krasser Irrtum. Schmetterlinge haben vier Flügel, hier waren eindeutig nur zwei zu sehen. Ein Zweiflügler also. Und zwar aus der Familie der Bombyliidae, der Hummel- oder Wollschweber – die Bezeichnungen differieren je nach Bestimmungshilfe. Die Behaarung führt zur Namensgebung. Genauer bestimmt: Bombylius major (Großer Wollschweber), eindeutig an der Flügeladerung bzw. Flügeleinfärbung zu erkennen.

100 der etwa 3000 Arten der Wollschweber  kommen in Mitteleuropa vor. Eine der im Frühjahr auftretende Art ist eben unser Großer Wollschweber. Nach Schwärmerart bleibt er vor der Blüte stehen und saugt mit seinem langen Rüssel. Die Larven entwickeln sich als Parasiten bei anderen Insekten, etwa an und in den Larven solitärer Bienen, Grabwespen oder Eulenfalterarten. Die Weibchen legen das mit etwas Sand beklebte & damit wohl geschützte & getarnte Ei direkt am oder in der Umgebung der Nesteingänge ab. Die geschlüpften Larven dringen dort dann aktiv ein und fressen zunächst das Futter der Wirtslarven weg. Später saugen sie dieselbigen sogar aus. Die Larven des Großen Wollschwebers haben anfangs bewegliche Beine. Nach einer ersten Häutung verändern sie sich zu einer beinlosen, madenartigen Gestalt und können sich nicht mehr gut bewegen. Sie überwintern als Puppe und schlüpfen ab März. So wie dieser in meinem Garten. //

Die Aufnahme hier mit den ausgebreiteten Flügeln bietet ein gutes Beispiel, um einige Worte über die Bestimmung der Insekten zu verlieren. Denn die Klassifikation geschieht auch & vor allem über die Ausbildung der Flügel. Die Bezeichnung  vieler Insektenordnungen enden mit dem Begriff -ptera, der vom griechischen begriff pteron (=Flügel) abgeleitet ist. Diptera heißt also direkt übersetzt Zweiflügler. Der typische Insektenflügel ist eine häutige Ausfaltung des Integuments (= äußere Zellschicht), die von einem Netzwerk von Adern versteift und getragen wird. Jede Insektenart hat eine bestimmte Flügeladerung. Sie ist gewissermaßen der Daumenabdruck der Insekten. Das Grundschema eines Insektenflügelaufbaus geht auf Studien der Zoologen Comstock und Needham aus dem Ende des 19. Jhs. zurück. Die abgebildete schematisierte Skizze zeigt die Aderung eines Wollschwebers. Alle Adern werden bezeichnet, etwa R als Radialader oder M als Medialader. Die Zellen werden entsprechend der Aderung bezeichnet. Durch die Einfärbung der vorderen Zellen läßt sich der Große Wollschwärmer vom Gefleckten Wollschwärmer mit seinen über den ganzen Flügel verteilen Zelleinfärbungen gut unterscheiden. Am warmen 19. April sah ich einen Großen Wollschweber wie er aufgewärmt von der Mittagssonne diverse Pflanzen nach Nahrung absuchte. War es der fotografierte? Welches Wollschweber-Indiviuum auch immer: es war ein heiteres Wiedersehen mit der nun mir bekannten Species.

Verwendete Bestimmungsliteratur: Michael Chinery. Insekten Mitteleuropas, Paul Parey, 3. Auflage, Hamburg 1984.

[Andreas Mahler, April 2022]


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Was ist Was oder Phänologie

Phänologie ist als Disziplin nicht zu verwechseln mit der philosophischen Richtung der Phänomenologie. Ganz kurz gesagt: Phänologie heißt eigentlich nur genau hinsehen. Genau hinsehen bereitet jetzt im Frühling große Freude, wenn z. B. die Blätter diverser Pflanzen aus der Knospe treiben. Oder um’s mit Goethe auszudrücken: wenn die Metamorphose der Pflanze sich regt. Wir geben hier Beispiele des Sehens. Wer die gemeinen Pflanzen, die meist auch im Bauern-Garten wachsen, identifiziert zu haben meint, schreibe unter der Rubrik "Kontakt" formlos an den Schwarzwaldverein. Mal schauen, wieviel phänologisches Wissen zusammenkommt. [Andreas Mahler, März 2022]


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Es war einmal Dunkelheit

Als ich sommers abends auf dem Tennisplatz einmal bemerkte, daß man die Flutlichter nach Spielbetrieb nicht unnötig lange weiter brennen lassen solle, etwa beim Biertrinken nach der Spielerei, denn das sei Lichtverschmutzung, kam als Antwort nur ein großes „Häh. Was isch denn des?  – ! – Was soll’s!“ – ? – : Mit Lichtverschmutzung – geläufig sind auch die Bezeichnungen Lichtsmog oder Lichtverunreinigung – wird gemeint, daß durch künstliches Licht zunehmend die natürliche nächtliche Dunkelheit auf der Erde verschwindet. Licht strahlt nach oben ab und wird in den Luftschichten der Erdatmosphäre gestreut. Wirkliche Dunkelheit ist heute schwer zu finden. Wer über die Obere Alb des nachts bei klarem Himmel zurück nach Stühlingen fährt, bemerkt eindrücklich die Lichtglocke über Kloten und Zürich. Aber was soll’s. Für den einzelnen Homo sapiens ist’s vielleicht kein großes Problem. Er kann in der Nacht durch Rollläden, Jalousien oder Vorhänge seines Schlafzimmers Dunkelheit schaffen, um zu schlafen. Das Begehren nach Sternenglanz in der Dunkelheit ist ein Luxus-Problem.

Für den Großteil der Pflanzen- und Tierwelt aber nicht. Insbesondere Insekten werden durch künstliche Lichter in den Sommermonaten angelockt, irritiert und verschwenden viel Energie. Wieviel Insekten an einem Flutlichttennisabend  zugrunde gehen, kann nur erahnt werden. Dokumentiert ist, daß in einer Sommernacht um eine normale Straßenlaterne etwa 150 Insekten durch unnatürliches Licht verenden. Multipliziert mit der Anzahl von Straßenlaternen in D erreicht man die Größenordnung von Milliarden. Bei Flutlichtern auf Sportanlagen potenziert sich die Frequenz zusätzlich. Der einzige Vorteil: die Bestimmung von nie gesehenen toten Nachtfaltern, die am Boden liegen. Immerhin lernt man so die Insektenwelt näher kennen.

Lichtverschmutzung mag vor allem ein großstädtisches Problem sein. Aber jedes kleine Kaff will sich ja urban geben, wie Stühlingen auch: Schloßbeleuchtung etwa, was immer auch die ästhetische  Botschaft sein soll – semantischer Kitsch vermutlich. Und all die Straßenlaternen ob der vermeintlichen Sicherheit. Oder der Kindergarten, in dem die ganze Nacht hindurch die Innenbeleuchtung brennen muß. Die hier gezeigt Aufnahme ist 4.40 h aufgenommen. Worin hier die Sicherheitsrelevanz liegt, weiß wahrscheinlich nur eine DIN-Sicherheitsvorschrift. Genau wie die Supermarktparkplatzbeleuchtung neben Wutach und nahe gelegenem Wald, der gemeinhin als Ruheplatz für Lastkraftwagenfahrer dient. Immerhin: Fehltritte beim nächtlichen Austreten wird’s dort nicht geben. [Andreas Mahler, März 2022]


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Rotkäppchen im Spätwinterwald

Wer Glück hat, findet im späten Winter in den Wäldern um Stühlingen einen besonderen Pilz. Er hat die Form eines Bechers und sticht durch sein leuchtendes Rot ins Auge. Deswegen heißt er zinnober- oder scharlachroter Kelchbecherling (Sarcoscypha coccinea). Liegen noch Reste von Schnee, ist der Farbkontrast noch auffälliger. Die  rote Fruchtschicht bildet das Innere des Bechers, außen ist er weißlich. Der Pilz wächst auf stark vermorschten, feuchten Laubholz-Ästchen, die oft unter der Laubschicht des Bodens verborgen liegen. Die Artbestimmung „coccinea“ ist trotz der Farbenpracht nicht sicher. In Süddeutschland soll Sarcoscypha austriaca häufiger sein. Daneben gibt es noch S. jurana. Mit bloßem Auge lassen sich die drei Arten allerdings nicht unterscheiden. Erst die mikroskopische Untersuchung durch den Pilzspezialisten bringt hier nomenklatorische Sicherheit. Alle Arten stehen auf der roten Liste und gelten als gefährdet. Frost macht diesen Pilzen nichts aus. Sie verströmen auch keinen typischen Pilzgeruch. Wer mit der Nase schnüffelt, bekommt allein den Modergeruch des feuchten Waldbodens zu riechen. Sarcoscypha heißt wörtlich übersetzt „Fleischbecher“. Auf einem Vorspeiseteller nähme er sich farblich prächtig aus. In den meisten Bestimmungsbüchern wird der scharlachrote Kelchbecherling allerdings als ungenießbar eingestuft. Und da dieser Pilz selten ist, lässt man ihn am besten auf seinem Modergrund stehen und genießt alleine das Zinnober-Rot. [Andreas Mahler, Ende Februar 2022]


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Unerreichbare Präsenz oder Seidelbast-Gabe in der Proemialrelation?

Der gewöhnliche Seidelbast (Daphne mezereum) ist vielleicht der betörendste Frühlings-Ankünder unter den einheimischen Pflanzen. Jetzt, Mitte Februar, sind meist die vollen Blütenstände aufgegangen. Die Blüte erscheint vor den grünen Blättern und vielleicht liegt es daran, daß sie so intensiv wirkt. Ihr Ultramarinviolett mit all den Schattierungen und Helligkeiten sticht im noch kahlen Wald in die Augen. Oft blüht der Seidelbast auf schneebedecktem Boden. Dann scheint er wie ein Irrläufer aus dem Süden. Die Blüte verströmt zudem einen Duft, der vorgaukelt, irgendwo in wärmeren Gefilden zu sein. Bienen, Fliegen und Falter, die von unvorhergesehenen Wärmeeinbrüchen hervorgelockt wurden, sind willkommene Gäste. Bei empfindlichen Menschen soll das daphnische Blütenparfum allerdings Kopfschmerzen, Gereiztheit, bisweilen sogar Nasenbluten hervorrufen, wie es im Hegi, der illustrierten Flora von Mittel-Europa heißt. Im Sommer werden die scharlachroten Früchte gerne von Vögeln, Drosseln und Rotkehlchen gefressen und die Samen dadurch verschleppt. Für Menschen sind es verbotene Früchte. Aufgrund des Gehalts an Daphnin sind sie außerordentlich giftig. Werden sie aus Unwissenheit verzehrt, verursachen sie Durstgefühl, Erbrechen und Durchfall und ein brennendes Kratzen im Hals, das im Volksmund zur Bezeichnung der Pflanze als Kellerhals geführt hat. Essen Kinder aus Unwissenheit 10 bis 12 Früchte auf ein Mal, kann das tödlich enden. Deswegen vielleicht das latinisierte arabische Beiwort „mezereum“, das töten bedeutet. Trotzdem hat man die Früchte früher zum Scharfmachen des Essigs benutzt. Daher rührt der Name Pfefferstrauch, der im Norddeutschen verbreitet ist. Alle toxisch wirkenden Pflanzen sind auch zu Heilzwecken benutzt worden. Alkoholische Auszüge der Seidelbast-Rinde wurden Pflastern oder Salben zugesetzt, die beispielsweise gegen Zahnschmerzen, Kopfweh, Gicht, Rheumatismus und syphilitische Krankheiten helfen sollten. Diese Verwendung in der alten Pharmazie hat sich auch in der Legendenbildung niedergeschlagen. Im Hegi wird Waldshut angeführt, wo einstmals Fuhrleute den Seidelbast, der an Mariae Himmelfahrt geweiht worden ist, an den Hut gesteckt haben, damit Hexen das Fuhrwerk nicht bannen konnten. Diese Legende ist sicherlich Schmu, denn sie erinnert an die wissenschaftliche Namensgebung, welche auf den griechischen Mythos über Daphne zurückgeht. Nach Ovids Metamorphosen stellt der manisch verknallte Apollon der Quellnymphe Daphne nach. Diese verweigert sich vehement dem Begehren des Gottes und fleht ihren Vater, den Flussgott Penëus um Hilfe an. Dieser verwandelt sein Kind just in dem Moment in eine Pflanze, als der treffsichere Apollon glaubt, sie erreicht und vereinnahmt zu haben. Seither ist ihm Daphne als wunderschöne Pflanze präsent und doch unerreichbar. Der unter Naturschutz stehende Seidelbast wächst mit Vorliebe auf Kalk. Das heißt im Schwarzwald auf Grundgestein, kurz hinter Bonndorf, wird Daphne schwerlich anzutreffen sein. Wird jemand mit verschlossenen Augen in unserer Gegend ausgesetzt und riecht den unvergleichlichen Duft des Seidelbasts, darf er fast sicher sein, sich bereits auf Muschelkalk, auf Stühlinger Gemarkung zu befinden. [Andreas Mahler, Feb. 2022]


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Wie Zeit zu Raum wird. Einblicke in den Buntsandstein an der Wutach.

Geologische Fachbücher reden vom Wutachgebiet als „einer vollständigen Abfolge der Gesteine vom Grundgebirge über Buntsandstein, Muschelkalk und Keuper bis in die Tone der Liaszeit in landschaftlich grandioser Umgebung aufgeschlossen.“ Oder von einem „Geologisches Kleinod im Südwesten“. Grund genug also für denjenigen, der in unmittelbarer Nähe wohnt, sich mit diesen Gesteinsarten an den Aufschlüssen zu beschäftigen. Am besten in der kalten Jahreszeit, wenn die Vegetation weitgehend ruht.

Ich fange nicht mit dem geologischen Großen und Ganzen an, das man gerade gelesen sogleich wieder vergißt, sondern mit „B“ wie Buntsandstein. Ihn haben die meisten Menschen Süddeutschlands schon gesehen, denn das Freiburger Münster ist aus dem Sandstein dieser Formation gebaut. Ich selbst war zuerst irritiert und habe geglaubt, Buntsandstein bezeichne eine Gesteinsart wie Granit oder Gneis. Dem ist nicht so. „Buntsandstein“, so heißt die geologische Formation, die aus diversen Sandsteinen und klastischen Sedimenten besteht. „Klastisch“ meint, daß das Material aus mechanischer Zerstörung anderer Gesteine entstanden ist. Auch war ich irritiert durch das adjektivische „Bunt“ und hatte mir im Feinschlief, den ich mir flexte, unter der Lupe eben ein buntes Farb-Gewimmel erwartet. Doch der Buntsandstein gibt sich nur in Rot- und Brauntönen. Die allerdings in bunten Nüancen (siehe Bild 5, 6, 7, das den Feinschlief eines insgesamt etwa 6 x 15 cm großen Buntsandsteinstückes aus der Lotenbachklamm zeigt). Johann Gottlieb Werner, der große deutsche Geologe, hatte etwa ab 1780 den Begriff in seinen Vorlesungen benutzt, um die Formation von der älteren Schicht „Rotliegend“ abzugrenzen. So hat sich der Begriff etabliert. Im Südschwarzwald hat der Buntsandstein „nur“ eine Mächtigkeit von 30 Metern, im mittleren Schwarzwald dagegen schon eine von zweihundert Metern. In der norddeutschen Tiefebene bis zu 1000 Metern. Warum das? Die Bestandteile des Buntsandsteins wurden aus den Hochgebieten des Variszischen (immer diese neblichte Namensgebung!) Gebirges durch Flüsse (weniger durch Wind) in einem großen Becken abgelagert unter meist heißen und ariden Verhältnissen. In vielleicht acht Millionen Jahren zwischen 251 und 243 Millionen Jahren vor heute. Der Südschwarzwald liegt in der Nähe des ehemaligen Vindelizischen Hochlandes am flacheren Beckenrand. Daher die geringere Mächtigkeit durch die später einsetzende Sedimentation. Infolgedessen fehlt der untere Buntsandstein im Wutachgebiet.

Soweit zum geologischem Minimal-Vorwissen. Gehen wir zu unseren Aufschlüssen. In der Lotenbachklamm unterhalb des Wasserfalls finden sich bereits Buntsandstein-Stücke neben Lenzkirch-Steina-Granit. Aber der schönste, gewissermaßen der aufschlußreichste Aufschluß findet sich etwa 600 Meter unterhalb der Schattenmühle. Der Geologe Christoph Hebestreit charakterisiert ihn so: „Die massiven Gesteinsbänke zeigen oft eine gebogene (trogförmige) und planare Schrägschichtung [siehe Bild 3], welche auf eine Ablagerung des heute meist kieselig gebundenen Sandsteins in einem sandigen verzweigten Fluß bei hoher Sedimentfracht verweist. Die massigen Bereiche gehen nach oben hin über in dünnplattige, tonigere Feinsandsteine [siehe Bild 2], die bei geringerer Strömung neben den Hauptrinnen auf Überflutungsflächen abgelagert wurden.“

Steht man direkt vor der Wand, fallen einem die Hohlkehlen ins Auge. Das sind Bodenbildungshorizonte, die hier einen violetten Farbtouch haben [siehe Bild 1]. Ein bis zwei Meter mächtige weicheren Bereiche innerhalb des Felsens, die sich aus verwitternden Gesteinen entwickelt haben. Sie repräsentieren längere Phasen, in denen die Flusslandschaft trocken gefallen ist. Die Ablagerung unterlagen der Verwitterung und so hat ein Bodenbildungsprozeß begonnen. An einer Stelle in diesem Horizont fallen die Chalzedon-Ausscheidungen auf, die zum Teil kräftig rot gefärbt sind: das ist Karneol [siehe Bild 4]. Auch für das ungeübte Auge zu erkennen. Karneol nach der Farbe der Kornelkirsche abgeleitet. Im Altertum, so hatte ich im Bestimmungsbuch für Schmuck- und Edelsteine gelesen, galt Karneol als blutstillend und zornmildernd. An letzteres mußte ich vor der Buntsandsteinwand denken, als neben mir vier boys zigarettenrauchend und zigarettenschnippend mit ihren girls in Turnschlappen auf dem schmierig rutschigen Weg vorbeiblödelten. Was zum Schwarzwaldkuckuck wollen die hier im kalten Dezembergrau? Doch nicht etwa schauen, wie Zeit zu Raum wird? [Andreas Mahler, Dez. 2021]

Literaturhinweis: Christoph Hebestreit, Wutachregion. Geologisches Kleinod im Südwesten. Quelle & Meyer Verlag 2016.


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Efeubekränzt-Sein.

Johannes Roth hat einmal eine seiner Gartenkolumnen überschrieben mit „Mut zum Efeu“ und dann gefragt, wer Angst vor  Efeu hat: „Besorgte Mütter, sofern sie wissen, daß die blauschwarzen Beeren giftig sind. Überständige Töchter, sofern sie glauben, was die schwarzen Magier und die weisen Frauen sagen: Efeu am Haus sperrt die Freier aus. Kleinmütige Gärtner und Hausbesitzer, die für wahr halten, was als Gerücht umgeht: daß Efeu die Mauern zerstöre und Bäume erwürge. […] Wer muß den Efeu wirklich fürchten? Der Weißbinder, der Gipser, das Malerhandwerk. Denn Efeu schützt und schmückt die Mauer nicht weniger als die kräftigste Dispersionsfarbe, jedoch viel länger.“ Das ist nur die halbe Wahrheit. Fürchten muß die Efeus auch, wer verpflichtet ist, sie zu schneiden. Eine mühsame, mitleiderheischende Arbeit, wenn die Mauer hoch und unzugänglich. Denn Hedera helix kann bis 20 Meter in die Höhe wachsen und spätestens wenn die Dachziegel erreicht sind, muß es gestutzt werden. Fassadenanstrichersatz ist schön & gut, vor allem weil das Efeu Hunderte von Jahren alt werden kann. Warum sich sonst noch der Mühe auf der Leiter aussetzen? 

Wer einmal im Spätsommer, im September, an einer blühenden Efeuwand in der Sonne gesessen ist, weiß warum. Der süße sämige Duft der Doldenblüte. Die unzähligen Insekten, die angelockt werden und sich ausgiebig bedienen bei diesem Spätblütler. All die Honigbienen von den Bienenwirten, die sich für den Winter eindecken oder die durch Efeu dem Herbsthonig die scharfe und angenehme Würze verleihen sollen. All die Hummeln, Wespen, Fliegen und Schwebfliegen. All die Schmetterlinge. Besonders der Admiral. Efeu gibt sich wie Heu für Insekten. Vielleicht daher die begriffliche Anlehnung Ebheu, das sich im im Oberdeutschen noch erhalten hat. Tatsächlich wurden in früheren Zeiten das Efeu an das Vieh verfuttert.

Efeu ist wintergrün. Seine Blätter vielgestaltig. Heterophyllie nennt’s der Botaniker. Die unteren Blätter der nicht blühenden Sprosse aus herzförmigen Grunde, 3- bis 5-eckig gelappt, meist weiß geadert, stark glänzend, sehr derb. Die oberen Blätter der Blütenzweige ei-rautenförmig bis lanzettlich, lang und zugespitzt, ganzrandig, zarter und matter. Eine efeubewachsene, insektenbeflogene Wand ist Schule des Sehens. Nit Lumpenzühg, das weg muß, wie viele meinen zu meinen.

Die Haftwurzeln ist eine Hemmungsbildung. Sie haben die Fähigkeit Nährstoffe aufzunehmen eingebüßt. Deswegen kann der Efeu auch kein Parasit sein. Nur bei schon vorhandenen Rissen in der Wand, kann Schaden durch Einwachsen entstehen. Bei Bäumen schädigt er, wenn diese vollständig überwachsen und des Lichts beraubt werden. Bei der Sprosse tritt Dimorphismus auf. Die Jugendsprosse, die mit der Unterlage verbunden bleibt, klettert nach oben, während die Blütensprosse in die Luft hinaus wächst. Wird sie nicht abgeschnitten, drückt sie die Schwerkraft nach unten.

Aus welcher Quelle Roth das mit den überständigen Töchtern schöpft, ist mir unbekannt & unplausibel. Denn in der griechischen Mythologie ist Efeu neben der Weinrebe  Dionysos heilig, der bekanntlich wie sein Nachfolger Bacchus kein Feind von Lebenslust war. Dionysos und sein Gefolge, Bacchen, Thyiaden, Mänaden, Satyrn und Silenen schmückten sich mit Weinlaub und Efeu. Dionysos trägt manchmal den Beinamen Kisseus, der Efeubekränzte. Das altgriechische Verb kissaoo meint „wonach lüstern sein“ oder „heftig begehren“, aber auch „den heftigen Appetit schwangerer Frauen haben“. Efeu gilt als psychotrope Pflanze – allerdings weiß ich nicht, wer sich daran heute noch versucht. Volksmedizinische Anwendungen sind (oder besser: waren) reichhaltig – bei Fontanellen über Menorrhagie bis zu finnigen Hausschweinen, die durch Efeukranz zudem vor Verzauberung geschützt sind. Circe läßt grüßen. Aber wir hören hier auf, auch wenn Hegi und Beuchert mit ihrem Buch „Symbolik der Pflanzen“ noch viel mehr über Efeu wissen.  (Andreas Mahler, September 2021)


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Kreuzspinne, Weibchen, Bauchseite. Aufnahme vom 15. August 2021, Stühlingen.

Spinne und Spinnen.

Spinnentiere sind ja bei einigen menschlichen Zeitgenossen immer noch Anlaß, sich ekelbekundend zu erschrecken. Die »Angst vor Spinnen« ist allerdings unbegründet. Denn es gibt nur wenige (tropische) Arten, deren Biß für den Menschen unangenehm oder gefährlich werden könnte. Und wenn, ist es eher eine Sepsis als das Gift der Spinnentiere, die gefährlich wirkt. Es soll ja etwa 30.000 echte Spinnen oder Webspinnen der Ordnung Araneae geben – wer immer auch die Arten gezählt hat. Die Größe reicht von den 9 cm der Vogelspinnen bis zu den 0,7 mm von Kleinstspinnen, die meist übersehen werden. Eine der bekanntesten Spinnen, die bei uns anzutreffen, ist unsere Kreuzspinne (Araneus diadematus), die zu den Radnetzspinnen zählen. Das Weibchen kann eine Körperlänge von fast 2 cm erreichen, das Männchen ist viel kleiner. Da die Kreuzspinne tagsüber mitten in ihrem Netz auf Beute lauert ist, fällt sie leicht ins Auge, so wie bei mir an der Straßenmauer unter der Waldrebe. Das Weibchen ob seiner Größe eher als das Männchen oder Jungspinnen, die noch nicht geschlechtsreif sind. Imposant ist das Netz, über das ich geglaubt habe, dass es eine anstrengende Arbeit über mehrere Tage erfordert, bis diese Falle verfertigt ist. In Wirklichkeit schafft die Kreuzspinne dies bereits in einer Stunde und erneuert es oft. Auf dem Bild sieht man die Bauchseite des Weibchens. Die charakteristische kreuzartige Punktierung aus der Oberseite ist daher nicht zu sehen. Dieses Weibchen wird den Winter nicht überleben. Im August erfolgt meist die Begattung durch ein umherstreifendes Männchen, das an einen Bewerbungsfaden zupft. Ist unser Weibchen empfängniswillig, erfolgt die Kopulation innerhalb weniger Sekunden. Es kann aber auch sein, daß das Weibchen einfach das Männchen auffrißt. Fragen Sie nicht nach dem Warum. Im Oktober verpackt das Spinnenweibchen ihre Eier in Kokons, gut versteckt. Dann stirbt es. Der Lebenszyklus einer Kreuzspinnengeneration beginnt von neuem.

Auch in der literarischen und kulturellen Erinnerung hat die Spinne lange einen schlechten Ruf gehabt. Ovid erzählt, wie die lydische Weberin Arachne, die in ihrem Gewerbe als die Beste gilt, den Fehler macht, sich mit Athene anzulegen. Sie fordert die Göttin zum Wettstreit, den sie von vorne herein – auch wenn sie besser webte als Athene – nicht gewinnen kann. Denn durch ihr geniales, kunstreiches Weben weckt die Weberin eben nur Athenes Zorn – auch Götter empfinden Neid –, die darauf hin das fertige Gewebe Arachnes zerstört. Diese will sich darauf hin enttäuscht erhängen. Das wiederum verhindert Athene, stützt mitleidvoll die am Strick Hängende und verwandelt Arachne und all ihre Nachkommen in Spinnentiere, denen allein die Webkunst geblieben ist.

Vielleicht rührt daher, daß die Spinne als Allegorie des Neides, des Streites, der Hinterlist und Tücke gilt. Man ist sich „spinnefeind“ oder gewisse Menschen gelten als „giftig wie eine Spinne“. Analog zu „bienenfleißig“ gibt es kein „spinnenfleißig“, vielleicht weil der Mensch vom Spinnenfleiß nicht so direkt profitiert wie vom Bienenfleiß. Ein „Spinner“ entwickelt „Hirngespinste“. Johann Peter Hebel ist dann einer, der die Spinne wiederholt preist, etwa in seinem alemannischen Gedicht „Das Spinnlein“: „Es spinnt und wandlet uf und ab, / potz tausig, im Galopp und Trap! – Jez goht’s ring um, was hesch, was gisch! / Siehsch, wie ne Ringli worden isch! /  Jez schießt es zarti Fäden i; / wird’s öbbe solle gwobe sy?“ Und endet theologisch-sozialdarwinistisch mit einer gefangenen Fliege: „Lueg, ’s Spinnli merkt’s enanderno, / es zuckt und springt und het sie scho. / Es denkt: ‚I ha viel Arbet gha, / jez mueßi au ne Brotis ha!‘ / I sag’s jo, der wo alle git, / wenn’s Zit isch, er vergißt ein nit.“

Der Dichter Hebel und sein Spinnlein dürften im kollektiven Gedächtnis vergessen sein. Die böse, überdimensionale Spinne, die in der Verfilmung des Romans „Der Herr der Ringe“ den Held Frodo durch ihr Gift sediert und in einen Kokon einspinnt, dagegen präsenter sein – wohl ein Erbe des Schauerromans aus dem 18. Jahrhundert. Gegen dieses Erbe gilt es ein paar Ecken in Haus und Garten unaufgeräumt zu lassen. (Andreas Mahler, August 2021)

Rudolf Schenda, Das ABC der Tiere. Märchen. Mythen und Geschichten gibt die Einblicke in die kulturelle Spinnengeschichte.


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Links Aufnahme Juni 2021, Stühlingen. Rechts die Abb. aus August Johann Rösel von Rosenhof, Insecten-Belustigung, Nürnberg 1740–1761

„Wohlgeruch der Brombeere“.

Eine etwas barocke Anmerkung über den Nachfalter Thyatira batis.

Jetzt Anfang Juni, während die Temperaturen über die 30 Gradmarke kletterten, bemerkte man wieder vermehrt Nachtfalter. Künstliches Licht im Freien ködern viele dieser Insekten – eine kleine Außenbeleuchtung auf der Terrasse reicht da schon. Es müssen nicht die Scheinwerferanlagen auf Tennis- oder Fußballplatz oder die unnötigen nächtlichen Straßenbeleuchtungen sein, die als massenhafte Lichtfalle für Insekten fungieren. Auch ein offenes Fenster taugt des Abends schon, um einen verirrten Nachtfalter anzutreffen. Meistens besteht bei Nachtfaltern das Problem, daß sie für den Laien schwer zu identifizieren sind. Und, um den Philosophen Ludwig Wittgenstein zu variieren: was man dem Namen nach nicht kennt, davon solle man schweigen. Geredet wird hier daher über einen Nachtfalter, den ich in den letzten Jahren des öfteren im Hause angetroffen habe, der weit verbreitet und zudem leicht zu identifizieren ist: den Roseneulen-Spinner, oder einfacher die Roseneule, Thyatira batis, von Linné 1758 zum ersten Mal beschrieben. Linné hatte den Nachtfalter noch Phalaena batis genannt, hergeleitet von „phalos“, von dem Glitzern ihres Fluges, wie bei Nikandros von Kolophon belegt. Die Namensgebung „Thyatira“ ist neueren Datums und sicherlich, nein: vielleicht vom altgriechischen „thuoó“, „ich verbreite Wohlgeruch“ abgeleitet; „batis“ dann der Pseudo-Genitiv von „batos“, die Brombeere, was auf die Raupennahrung verweist. Naturwissenschaftler sind zwar Entomologen, aber keine ganz astreinen Etymologen, weshalb die oft etwas halsbrecherische Namensgebung nicht immer einwandfrei auf die ursprüngliche Absicht zurückzuverfolgen ist. „Wohlgeruch der Brombeere“ ist meine wörtliche Übersetzung des altsprachlichen Mischmaschs und ich bleibe dabei, auch wenn es etymologische Falschstapelei sein mag.  Die offizielle deutsche Namensgebung „Roseneule“ verweist auf den Familiennamen „Eulenspinner“, obwohl die Roseneule eben nix mit Noctuae, den Eulen, zu tun hat. Damit genug von den Benennungen. Wir wollen ja nicht dem Nominalismus, einer der vielen metaphysischen Lichtfallen der Philosophie, verfallen.

Auffällig ist die Roseneule, wenn sie mit den zusammengefalteten Vorderflügeln an einer hellen Wand sitzen bleibt. Die sofort ins Auge fallenden zartrosa Randbänder der in der Mitte bräunlichen Flecken, auf der Oberseite geben der Art (jetzt zum allerletzten Mal & wer sich’s jetzt nicht merken kann, ist selber schuld) den ersten Teil des deutschen Gattungsnamens. Die Flugzeit der Imagines erstreckt sich von Ende April bis September. In wärmeren Gefilden gibt’s zwei Generationen. Vermutungen gehen sogar von dreien aus. Die Eiablage wurde in Baden-Württemberg noch nicht direkt beobachtet, so jedenfalls Eberts Standardwerk über die Schmetterlinge.  Eine erste Raupe wurde im Mai vom klimatisch begünstigten Tuniberg gemeldet. Man kann die Raupen dann den ganzen Sommer über auf Rubus-Blättern sitzend sehen, also vor allem auf Himbeeren und Brombeeren. Falls Sie in ihrem Garten auf Rubusblättern so etwas wie einen Vogelschiss entdecken: es könnte auch die Raupe der Roseneule sein, da sie sich durch Vogelkotmimese (= ich sehe aus wie Scheisse! Vogel! Du brauchst mich nicht zu fressen! Verdirbst dir bloß den Magen!) ausreichend vor Fressfeinden schützt. Wanzen und ähnliches Getier fressen die Raupen trotzdem. In der Jugend sind die Raupen gelblich-grün gefärbt, später wechselt die Färbung nach braun, dunkelbraun oder fast schwarz. Auch Freilandbeobachtungen der Verpuppung sind nicht bekannt. Es gibt also noch Anreize zu Entdeckungen im Garten! Immer schön den Fotoapparat mitnehmen, wenn Sie den Reifegrad der Himbeeren, Brombeeren oder vielleicht auch Johannisbeeren checken. Achten Sie auf zusammengesponnene Blätter. Darin könnte sich gerade eine Verpuppung ereignen, die sonst noch niemand beobachtet hat.

Jenseits des Gartens sind es Laub-, Misch und Nadelwälder, also im Grunde alle Wälder, in denen die Raupennahrungspflanzen vorkommen, die als Lebensraum der Roseneule gelten. Thyatira batis ist geradezu Leitart der Himbeerfluren halbschattiger Böschungen am Waldrand. In die Leier von der Intensivlandwirtschaft, die natürlicherweise alles kannibalisiert, was ihr nicht zu schnödem Kapital gerinnt, ist hier ebenfalls einzustimmen. Die Kenntnisse der Roseneule sind nach Ebert spärlich. Keinerlei Angaben zu den Nektarpflanzen. Man müßte sich des Nachts im Garten bei Vollmond auf die Lauer nach dem saugenden Insekt legen – vermutlich bei den Rubus-Blüten. Meine Roseneule, mein Wohlgeruch der Brombeere, fand sich dieses Jahr im Locus. Immerhin kein schlechtes Zeichen. Oder ist das wieder so eine Lichtfalle des Nominalismus? Aber nein. Diesbezüglich halten ich mich an positive Metaphysik. Davon gibt’s ja auch  reichlich genug. (Andreas Mahler, Juni 2021)

Hübsches Bildmaterial über Ei, Raupenvielfalt und Puppe der Roseneule bringt: http://lepiforum.org/wiki/page/Thyatira_Batis#/image

Die Schmetterlinge Baden-Württembers, Band 4, herausgegeben von Günter Ebert, bringt wie immer die grundsätzlichen Infos.


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1,2: Hummel-Ragwurz (Ophrys holoserica), 3,4: Fliegen-Ragwurz (Ophrys insectifera). Erkennen Sie das kleine Vögelchen?

5,6: Spiegel-Ragwurze, die mir nach Lektüre aus dem Archiv von wahrhaftigen Orchideen-Liebhabern zugeschickt wurden.

Blüten schauen dich an!

Eigentlich wollte ich mal über eine Blume schreiben, die gar nichts will, weder schön noch sonst wie auffällig sein, weder giftig noch pflanzenmedizinisch besonders wertvoll oder gar geschmacklich von kulinarischem Interesse – über das Frühlingshungerblümchen zum Beispiel. Ich verschieb’s angesichts der vielen Orchideen, die zur Zeit blühen. Wer wollte bestreiten, daß Orchideen zu den Pflanzen mit den schönsten und eigenartigsten Blüten zählen. Von daher werde ich hier zwei Orchideen, genauer zwei Ophrys-Arten, bildlich vorstellen, die Hummel-Ragwurz, die bei der Wanderung mit Martin Junginger zu sehen war, und die Fliegen-Ragwurz, die auf dem Naturlehrpfad auf dem Lindenberg wächst. Bei beiden ist die Lippe der Blüte auffällig. Sie sieht aus wie die Oberseite eines Insektes. Daher auch die Namensgebung. Aber es geht bei allen Ragwurz-Arten nicht nur um Schönheit, vielmehr ist die Bestäubung ihrer Blüten eines der aufregendsten Kapitel der Blütenökologie. Und noch mehr: anhand solcher Blüten und ihrer Funktionsweise kommt man ins Grübeln über die verschiedenen Evolutionstheorien. Doch der Reihe nach.

Es ist wenig über 100 Jahre her, daß zum ersten Mal überhaupt an einer Ophrys-Art der Fortpflanzungsmechanismus beschrieben wurde. Maurice Pouyanne, Präsident am Appelationsgericht in Algier, hat 1916 [sic!] seine Beobachtungen, die er über 20 Jahre lang aus Liebhaberei an Ophrys speculum, der Spiegel-Ragwurz, gemacht hatte, publiziert. Er hatte herausgefunden, daß die Spiegel-Ophrys von Dolchwespen der Art Trielis ciliata angeflogen werden und zwar ausschließlich von den Männchen dieser Species. Die Männchen schlüpfen etwa einen Monat vor den Weibchen und besuchen Pflanzenblüten mit viel Nektar und Pollen, die sie als Futter verwerten. Sie besuchen aber auch regelmäßig die als Futterpflanze völlig ungeeignete Spiegel-Ophrys, die ohne verwertbaren Pollen und Nektar ausgestattet ist. Dennoch stürzt sich die Dolchwespe gierig auf die Blütenlippe der Spiegel-Ophrys. Warum? Durch Experimente hat Pouyanne herausgefunden, daß es der Duft der Ophrys-Art ist, der die Männchen anlockt. Sie setzen sich längs auf die Lippe, mit dem Kopf geradewegs unter die Klebkörper der Pollenpakete. Die Wespe bewegt das Ende des Hinterleibes gegen die Haare am Rand der Blütenlippe hin und her. Dabei zittert das ganze Tier und bekommt die Pollenpakete zwischen die Augen gesetzt. Die Bewegungen entsprechen denen des Begattungsaktes. Das Männchen verwechselt also die Lippe der Blüte mit dem Körper des Weibchens. Wenn die Erregung abgeklungen ist, reibt sich das Männchen am Kopf, wobei die Pollenpakete etwas herabgebogen werden. Das erleichtert dann ihr Einführen in die Narbengrube beim Besuch der nächsten Blüte. Sind die Dolchwespenweibchen geschlüpft, verlieren die Männchen das Interesse an der Ophrys-Blüte. Spätere Blüten bleiben daher unbestäubt und unbefruchtet. Pech gehabt.

Der Zoologe Bertil Kullenberg hat dann an Ophrys insectifera, der Fliegenragwurz, die von der Grabwespengattung Gorytes bestäubt wird, dieses Wechselspiel weiterverfolgt und seine Ergebnisse in den 1960er Jahren veröffentlicht. Er hat das Drüsengewebe identifiziert, das die Duftstoffe erzeugt. Der Sexuallockstoff des Grabwespenweibchens ist in Duftqualität und chemischer Zusammensetzung ähnlich dem der Fliegen-Ragwurz. Der Duft ist für die Fernwirkung zuständig, für die Nahwirkung muß die Formgröße der Lippe stimmen, darf nicht zu groß, nicht zu klein sein. Bei der Farbe wirken vor allem zwei Signale: die dunkle Färbung der Lippe und der helle Schillerfleck darauf. Die dunkle Färbung der Lippe entsteht durch eine Mischung purpurroter und grüner Farbstoffe und wird durch die samtartige Behaarung verstärkt. Der Schillerfleck ist glatt und metallisch-mattblau, glänzt je nach Lichteinfall anders. Je größer der Farbkontrast, um so anziehender die Wirkung auf das Männchen. Eine analoge Kontrastwirkung erzeugen eben auch die Grabwespenweibchen mit ihren angelegten Flügeln. Die richtige Stellung der Grabwespe auf der Blüte wird zudem fein justiert durch Biegsamkeit und Spannkraft der Behaarung. Auch dieses Muster stimmt bei Grabwespe und Blütenlippe überein.

Die Hummel-Ragwurz (Ophrys holoserica) wird hauptsächlich durch die Bienenart Eucera longicornis befruchtet, der Gartenlaubkäfer (Phyllopertha horticola) beteiligt sich aber auch des öfteren an diesen Pseudo-Kopulationen und verschleppt mehr zufällig, mehr schlecht als recht das Pollenpaket. Die Bienen-Ragwurz (Ophrys apifera) besitzt zwar eine ähnlich komplizierte  Blüte, wird aber selten durch ein Insekt fremdbestäubt, sondern befruchtet sich meist selber. Der komplizierte Blütenaufbau ist hier funktionslos geworden. Wer bei der Befruchtung nicht auf das Andere zuverlässig hoffen kann, muß sich halt selber helfen.

War die Literatur über die Ophrys-Blütenökologie bis vor einem halben Jahrhundert noch einigermaßen überschaubar, sind nun die Publikationen darüber in die Höhe geschnellt und kaum mehr rasch zu sichten. Trotzdem sollen hier noch einige Fragen gestellt werden. In den Texten über die Ophrys-Blütenökologie finden sich Ausdrücke wie Täuschungsversuch, Pseudokopulation, Verwechslung oder aphrodisierende Wirkung und so weiter. Da sind sprachliche Metaphern, die über grundsätzliche Fragen der Evolution etwas hinwegtäuschen. Denn das Rätsel bleibt: Ist es reiner Zufall, daß sich durch Selektion diese Blüten analog in Farbe, Form und chemischer Struktur zur Insektenform entwickelt haben? Oder wie sonst kommt diese evolutionäre Kohabitation zwischen Insekt und Pflanze zustande, die manchmal auf eine Insekten- und Pflanzenart beschränkt bleibt? Muß es nicht eine Pflanzen und Tiere umgreifende Sprache auf molekularer Ebene geben, so daß solche „Täuschungsmanöver“ überhaupt zustande kommen? Gibt es dann diese strikte Trennung zwischen Pflanze und Tier überhaupt, an die wir uns so gewöhnt haben? Die Fragen ließen sich leicht mehren. Aber dann kommen wir nur zu noch rätselhafteren Eksistenzfragen in der Lichtung des Seins. Hören wir lieber mit ein bißchen lustvoller Praxis auf. Nehmen wir uns doch einmal vor, auf die Grabwespe oder auf Eucera longicornis zu warten, voyeuristisch dem Sex, den Zuckungen des verführten Insektes zuzukucken, die Nase dann ganz nahe an dem betörenden Duft der Ophrys. Soll in Richtung Lindenblütentee gehen. Das Insekt läßt sich nach Forschungs-Erfahrung im Akt zwar täuschen, aber in seiner Verzückung nicht stören. Oder verfolgen wir mal bei Gelegenheit die Selbst-Pollution von Ophrys apifera, so wir nur Geduld haben und nicht verlockt von so viel glänzend-samtener Schönheit selbst Hand anlegen. Und ach ja, fast hätte ich es vergessen: der Schriftsteller und Schmetterlingsspezialist Vladimir Nabokov hat diese oben skizzierten biologistischen und evolutionären Erklärungsversuche einfach weggewischt und behauptet: Blüten und Insekten haben so schöne und so prächtige Formen nur deshalb entwickelt, allein um eines Tages den Menschen damit zu erfreuen. (Andreas Mahler, 31. Mai 2021)

Literatur: Andreas Bertsch, Blüten – lockende Signale, Ravensburg 1975


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Bild 1: Zitronenfalter beim Sonnenbad. Die Flügel sind dabei gefaltet, daher die Wendung "seitlicher Absorptionssonner". Die Flügelflächen stehen senkrecht zur Sonne. (21. Feb. 2021, unweit Stühlinger Hütte)

Bild 2: Zitronenfalterloser Fernblick aus dem ausgeweideten Mutterland zwischen Weizen und Lausheim. (selbiger Tag)

Der Sommer im Winter.

Der Zitronenfalter gilt noch vielen Menschen als Allerweltsfalter, dem oft keine große Beachtung geschenkt wird, obwohl Insekt des Jahres 2002. Jetzt, da im allgemeinen die Schmetterlingshabitate immer mehr schrumpfen, wird jede Art zur Besonderheit – mir jedenfalls. Umso mehr, wenn sich ein Schmetterlingswesen bereits in den Wintermonaten sehen läßt. Und Gonepteryx rhamni, so der lateinische Artname, ist mithin in seinem Zitronengelb (nur die Männchen sind intensiv zitronengelb, die Weibchen blaß grünlich-weiß gefärbt) mit den vier orangenen Flügelpünktchen auffälligster Bote, der den Frühling ankündigt. Oder vielmehr: der Zitronenfalter ist schon ein Stück stillgestellter Sommer, das im Winter von heute auf morgen erscheinen kann. Je älter ein Mensch wird, desto mehr wird er dieses Stück Sommergelb im Winter schätzen lernen. Der frühe Flug rührt daher, dass der Falter in Kältestarre überwintert. Er vermag durch Senkung des Gefrierpunktes der Körperflüssigkeit bis Minus 20 Grad zu überleben. Efeubekronte Mauern dienen gern als Überwinterungsversteck. Sobald die Temperaturen steigen, kann er sofort losfliegen. So geschehen am 21. Februar 2021, ein Tag, der an manchen Stellen sommerliche Temperaturen brachte, nicht lange nach den zweistelligen Minusgrad-Tagen. Fliegende Falter sind von November bis Ende Februar äußerst selten, heißt es in dem Tagfalter-Band der Schmetterlinge Baden-Württembergs aus den 1990er Jahren. Manche verharren sogar in der Winterstarre bis Juni. 

An diesem zweitletzten Februarsonntag jedenfalls ist die Abbruch-Halde von Weizen Bahnhof Richtung Stühlinger Hütte morgens schon von der Sonne erwärmt. Kaum im lichten, laubfreien Wald schaukelt das Schmetterlingsgelb um den Wanderer und bleibt auch in der Nähe des Wanderweges, fliegt mit, als ob er Geselligkeit sucht.

Ab April legt die Falterin ihre Eier ab an den sprießenden Blätter von Faulbaum und Kreuzdorn (Rhamnus, daher der Beiname). Es lohne sich daher, schon einen von diesen zwei Straucharten in seinem Garten zu pflanzen, heißt es. Das ist doch eine Vorgabe. Und wenn genügend Efeu in der Nähe, ist das Zitronenfaltererlebnis fast schon gesichert.

Quert man von der Stühlinger Hütte kommend die Hochebene zwischen Lausheim und Weizen, um die Wanderrunde abzuschließen, wird es für einige Zeit mit Bestimmtheit Zitronenfalterlos, das heißt trostlos. In diesem flurbereinigten Areal, wo keinerlei Heckensäume irgendwelchen Insekten Schutz und Nahrung bieten, gerät derjenige, der noch ein substanzielles Gemüt (im Sinne von Immanuel Kant) zu eigen hat, in ein tristes feeling. Nicht einmal die eindrucksvolle bläulich-weißliche Horizontlinie der Alpenkette, die sonst zu Rêverien reizt, und hier bei geeigneter Wetterlage zu schauen ist, verhilft aus düngegrüner Gemengelage, die erst durch Teerränder zum Stoppen gezwungen wird.  Wo der Allerwelts-Zitronenfalter fehlt, ist das Welt-Gefüge nicht mehr stimmig. Au do im Kleinä zwischen Wizzä und Lusä isches so. (Andreas Mahler)


8

Die verpasste Ernte.

Dieses Jahr hing der Apfelbaum mit der Sorte Elstar brechend voll. Ich kam nicht nach mit der Ernte. Die schönsten Exemplare hingen weit oben und waren nur mit Leiter zu brechen. Die Baumleiter stand denn irgendwann auch – aber die endgültige Pflückarbeit wurde immer wieder verschoben. Die Bodenlese bot genug. Regenwasser, dass sich in der Kuhle am Stil der einzelnen Früchte sammelte, fror schon ab und an zu Eis. Zu Apfelmus ließen sich die so gekühlten Exemplare indes allemal noch verarbeiten. Am 11. Januar fing es dann kontinuierlich an zu schneien. Die Erde überzog sich sukzessive mit Schnee, der liegenblieb und sich höher schichtete. Freitag morgen schaute ich vom Fenster aus in den Garten und bemerkte eine Schar Amseln, die in der Baumkrone saß. Ich fing an zu zählen und hörte irgendwann zwischen 30 und 40 auf. Einige Vögel waren bereits weggescheucht, reagierten auf das bloße Fensteröffnen sensibel. Die hängengebliebenen Elstar waren begehrtes Nahrungsmittel geworden. Einige Meisen mischten sich unter die schwarzen Vögel. Als ich samstags wieder auf die Baumkrone lugte, war er früchtekahl. Und es hatten nicht wenige Äpfel in der Baumkrone gehangen. Die Vögel haben inzwischen alles weggeputzt. Hermes hätte sein Freude daran gehabt. (Andreas Mahler)


7

Über die Schwierigkeiten mit dem Umgang von Pilzbestimmungsbüchern.

Wenn’s um’s Pilzesammeln geht, ist es ja fast eine stehende Redewendung geworden, dass an jedem Waldeinfahrtsweg im Schwarzwald ein Auto mit Schweizer Kennzeichen rumlümmelt, deren Insassen systematisch Phifis und Steinis absammeln. Nun liegt ja Stühlingen auch im Schwarzwald, wenn auch hart an dessen Grenze. Aber wir befinden uns hier schon auf Kalkgebiet, wie zum größten Teil unsere Schweizer Nachbarn auch. Was also, wenn man sich nicht dauernd auf Pfifferlinge und Steinpilze kaprizieren will, die meist erst jenseits des Steinatals in größeren Mengen zu finden sind? Man sucht eben nach Pilzen, die vor der Haustür auf Kalk wachsen. So man nicht von einem Pilzspezialisten eingeführt wird, verlangt dies nähere Beschäftigung mit Pilzbestimmungsbüchern. Das Internet hilft meist erst weiter, wenn die Pilze schon bestimmt sind. Und das kann verwirrend sein. Zum Beispiel: jetzt Anfang November trifft man bei Waldgängen, ohne die Wege zu verlassen, oft auf zwei Pilzarten in hexenringförmigen Ansammlungen: auf den Violetten Rötelritterling und die Nebelkappe. Zum ersteren: Lepistuda nuda.

Im meinem neusten Pilzbuch, Bons Kosmos Naturführer, 2012 auf deutsch erschienen, heißt es vom Hut: »anfangs schön lilablau, im Alter von der Mitte her rotbräunlich oder ockerbräunlich ausblassend«. Auch die Lamellen »erst lila, dann mehr fleischbräunlich«.  Schon blöd, wenn ein Pilz die Farbe wechselt. In der Abbildung bei Bon ist er farblich etwa dazwischen – bräunlich-lila – getroffen, falls der chinesische Druck nicht täuscht. Außerdem beruht das Bestimmungsbuch wahrscheinlich auf großbritannisches Anschaungsmaterial. Schaue die Abbildung in Roger Phillips Kosmos Bildatlas nach, deutsch in der 2. Auflage 1990 erschienen und in Italien gedruckt. Hier ist der Hut eher rehbraun, die Lamellen noch violett, der axiale Schnitt sieht so aus wie bei meinen Exemplaren: violett bis zur Hutunterseite. Nur die jungen Pilze schmecken. Aber meine Hüte sind doch schon bräunlich? Habe ich also alte Exemplare? Und daher nicht essen? Besitze noch ein Pilzbuch von Philipps, bei Knaur erschienen, auch schon 3 Jahrzehnte alt. Die Photos ähneln dem im Pilzatlas. »Gut gekocht, schmeckt der Rötelritterling köstlich.« Roh ist er giftig, kann ich nur ergänzen. Die Farbzeichnung in Haas/Gossner, Die Pilze Mitteleuropas von 1976 bringt auch keine neue Erkenntnis. Das Photo bei Ewald Gerhardt in seinem BLV Intensivführer Pilze Band 1 dafür wieder ganz verschieden. Gedruckt 1984 in Deutschland. Ziemlich bräunlicher Hut. Dafür ist die farbige Abbildung bei Julius Peters Kleiner Pilzkunde von 1960 ganz in dunkelviolett eingetaucht. Bloß sich nicht auf diese Abbildungen verlassen. Oder doch! Denn Robert Hofrichter hat in seinem Buch Das Geheimnisvolle Leben der Pilze von 2017 als Photo auch diese Variante mit ganz violettem Habitus. Er schreibt: »Auch der wunderschön gefärbte Violette Rötelritterling kann bis tief in den Winter hinein wachsen [weil er nämlich Anti-Frost-Proteine besitzt]. Seine Farbe verleitet dazu, ihn als Rotkohlersatz roh in  Salate zu schneiden. Das sollte man aber auf keinen Fall tun: Roh ist der Pilz, wie sehr viele andere Speisepilze auch, giftig. Aber seine Toxine sind thermolabil und zerfallen bei einer Wärmebehandlung. Vorgekocht und abgekühlt darf  er also einen bunten Akzent in der Salatschüssel setzen.«

Wie steht’s mit der Geruchsbeschreibung: bei Bon: einerseits »schwach obstartig«, andererseits »unangenehm nach Vitamin B oder Mehl«. Wie riecht nochmal Vitamin B? Bei Gerhardt: »angenehm würzig«. Philipps in seinem Atlas: »deutlich aromatisch«. Haas/Gossner: »Der Geruch muß als eigenartig süßlich und nicht besonders angenehm bezeichnet werden«. Bei Peter: »Angenehm rettichartig«. Eine eindeutige Geschmacksbestimmung liest sich anders. Jetzt, während ich dies schreibe, bin ich auf der Suche nach dem verlorenen Geruch. Meine Exemplare liegen noch herum, schrumpelig eingetrocknet. Riechen eher nach getragenen Wandersocken. — Sie sehen, was ein erfahrener Pilzexperte wert ist, der einem im Wald zur Seite steht. Auf ein Pilzbestimmungsbuch ist bei manchen Pilzen, die sich in ihrem Farbhabitus verändern, ohne sonst ein markantes Bestimmungsmerkmal zu haben, schwerlich Verlaß. Denn die Bandbreite der Farbvarianten sind selten in einem Pilzbestimmungsbuch zu finden. Was tun? Probieren geht über Studieren? Nein, nicht bei Pilzen! Oder doch wieder ins Auto steigen und gen Westen zu den Pfifferlingen und Steinpilzen zurück? Jetzt ist es zu spät. Aber der Violette Rötelritterling wächst  weit in einen milden Winter hinein. Der nächste Waldgang kommt bestimmt. (Andreas Mahler)


6

Der Makel der Landsberger Renette.

Immer, immer sich um den Garten kümmern. Zum Beispiel um die drei Apfelbäume, dich ich vor Jahren gepflanzt habe. War es ein Fehler, die Sorte Landsberger Renette zu pflanzen? Wie kam ich überhaupt darauf, diesen Apfel auszusuchen? Weil der Halbstamm-Schössling zufällig bei der örtlichen Baumschule zu haben war? Ich weiß es nicht mehr. 

Antiquarisch habe ich dann später „Die Farbtafeln der Apfelsorten“ erstanden, im Verlag Eugen Ulmer 1958 publiziert.  Darin wird die Landsberger Renette so charakterisiert: mittelgroß bis groß, stielbauchig, kelchwärts sich stark verjüngend. Die Fruchtschale fein, druckempfindlich, zunächst hellgrün, später hellgelb und sonnenseits leicht verwaschen gerötet, mit bräunlicher Punktierung. Das Fruchtfleisch gelblichweiß bis grünlichweiß, locker, saftig, erfrischend, jedoch leicht gewürzt, mild. Hört sich doch gut an. 

Bei den Eigenschaften und Ansprüche heißt es: ziemlich stark wachsend, sich reichlich verzweigend. die bräunlichgrüne Farbe der Rinde am jüngeren Holz und das große gewellte Blatt sind sichere Erkennungszeichen der Sorte. „Genügsam hinsichtlich der Klimaverhältnisse“ ist heute sicherlich anders erklärungsbedürftig als vor über 50 Jahren. Früh mit dem Ertrag einsetzend, fruchtet reich und regelmäßig. Guter Pollenspender. Also alles richtig gemacht?  

Unter der Rubrik Anbauwert dann: für Selbstversorgerobstbau zu empfehlen. Aber: Kann keine Hauptsorte für den Erwerbsanbau sein, da die Genußreife (November bis Anfang Februar) nicht günstig liegt und die Versandfähigkeit infolge der Druckempfindlichkeit nur gering ist. Außerdem gibt die Sorte bei einem reichen Behang einen zu großen Anteil grüner unscheinbarer, grasig schmeckender Früchte. Mehrmaliges Auspflücken ist nötig. Dazu Schorf-, krebs-, blutlaus- und in warmen Lagen mehltauanfällig. Ho! Hm! also doch ein Fehlgriff.

Dazu kommen als Mitesser die Raupen des Apfelwicklers (Cydia pomonella), bei deren Dezimierung ich mich ganz auf die natürlichen Feinde wie Schlupfwespen und Ohrwürmer verlasse. Und dann natürlich die vielen faulen Äpfel am Baum selber. Das liegt an der empfindlichen Fruchtschale der Renette. Ist die nämlich nur klitzeleicht verletzt, ist das ein Einfallstor für den Pilz Monilia, der die Frucht zum Faulen bringt. Konzentrische Kreise mit Pusteln weisen auf Monilia fructigena hin. Ich sollte die faulen Früchten nicht auf dem nahe gelegenen Komposthaufen werfen, da sich da die Sporen leicht wieder vermehren können und zum Baum zurückkehren. Wozu habe ich eine braune Tonne?

Sei’s drum. Die Landsberger Renette wird ob ihrer Empfindlichkeit in keinem Supermarkt zu finden sein. Die fotografierten Exemplare sehen aus wie beschrieben und gemalt im Apfelsortenbuch. Und ich finde die Sorte schön – gerade weil sie nicht makellos rein daherkommt. Keine Schönheit ohne Makel sowieso. Paris hätte sicherlich nicht verschmäht, die Landsberger Renette mit ihrem verwaschenen Sonnenrot als Ersatz für den Goldenen Apfel zu verwenden. Was soll ich also mit meinen beiden Muster-Exemplaren tun. Aufessen im saftigen Zwischenkolorit von grünlichweiß und gelblichweiß? Oder warten bis Ende Januar und probieren, ob bzw. wie genußreif sie da noch sind? Auf jeden Fall keinen Zankapfel draus machen! (Andreas Mahler)


5

Aufnahmen Stühlinger Schloßberg, Sommer 2020

Der Schweiß, der Eisvogel und die Einheit der Welt.

Es gibt einen Kleinen Eisvogel, einen Großen Eisvogel und einen Blauschwarzen Eisvogel. Gemeint sind nicht Varietäten des Vogels Alcedo, der Eisvogel, der bei uns an der Wutach lebt, sondern drei Schmetterlinge aus der Gattung der Nymphalidae. Ob da der kleine oder große oder der blauschwarze fliegt, ist für den Laien schwer zu unterscheiden. Der Große Eisvogel läßt sich vielleicht am leichtesten ausmustern, da er nicht die charakteristische eine weiße Binde auf der Oberseite der Flügel trägt. Diese hat dafür auch der Schwarze Trauerfalter. Sitzt ein solch gemusterter Schmetterling auf einem Feldweg und saugt Feuchtigkeit, ist das vielleicht die beste Gelegenheit ihn zu bestimmen, denn er faltet dabei manchmal seine Flügel und so wird seine Unterseite sichtbar. Nun wird es mit Hilfe meines Schmetterling-Bestimmungsbuches von Higgins/Riley, das ich mir auf Empfehlung von Vladimir Nabokov antiquarisch für ein Zwei-Café-Tassen-Geld erstanden habe, klar: der Schwarze Trauerfalter (Neptis rivularis) ist ohne Postdiskalpunkte auf der Unterseite seines Hinterflügels, der blauschwarze Eisvogel (Limenitis reducta) hat nur eine Reihe solcher Punkte und der Kleine Eisvogel (Limenitis camilla) ist mit zwei Reihen geschmückt. Männchen und Weibchen sehen morphologisch, also von ihrer sichtbaren Form und Farbgebung, gleich aus. Auf unserem Bild ist daher der Kleine Eisvogel zu sehen – Der griechische Artname Limenitis heißt übersetzt „dem Hafen zugehörig“ und war in der Antike häufig Beiname einer Schutzgöttin oder Schutzgottes – dann halt Limenitēs – und der Namensgeber Linné dürfte daran gedacht haben, dass der Schmetterling bevorzugt in feuchten Wäldern zu finden ist – Schutzgötter führen wir heute ja nicht mehr in unserem geistigen Repertoire. Mit dem Beinamen Camilla, die ehrbar geborene, schlicht nach einem Frauenvornamen benannt. 

Camilla fliegt in einer Generation von Juni bis August, an günstigten Stellen entwickelt sich eine unvollständige zweite Generation. In Europa kommt die Art bis Südengland und Südschweden vor. Sie fehlt auf der Iberischen Halbinsel und in Süditalien, in Griechenland und auf den Mittelmeerinseln. Camilla lebt besonders an Stellen, wo die Futterpflanze der Raupe vorkommt. Diese lebt von Lonicera-Arten, von Wald-Geissblatt und roter Heckenkirsche. 

Unsere Camilla habe ich im Zankföhrle angetroffen, während sie auf dem Feldweg Feuchtigkeit aufsaugte. Sie ließ sich kaum stören. Und sie hat eine Besonderheit. Ihre Flügeloberseite geht mehr ins Schwärzliche als ins Bläulich-Bräunliche, was sonst üblich ist beim Kleinen Eisvogel. Auffallend auch der etwas blaßere rechte Hinterflügel. In der Literatur ist von melaninen Aberrationen der Art die Rede. Das trifft wahrscheinlich auch auf die Abgebildete zu. Das Exemplar wäre sicherlich ein Fall für die wissenschaftliche Genetik. Ich scheuche es auf Nimmerwiedersehn vom Weg, denn ich bemerke tapsige Spaziererinnen mit Hund anwedeln.

Die grüne dornenbewehrte Raupe spinnt sich aus dem Blatt ihrer Futterpflanze ein Hibernarium oder Hibernaculum, ein Winterlager. Im 3. Larvenstadium fängt die Raupe an, das Blatt auf beiden Seiten bis zur Mittelrippe einzuschneiden, trennt den oberen Teil ab und umspinnt den Blattstil mit dem Zweig. Auf der Rippe liegend, nimmt die Raupe mit ihrer Länge maß und rollt sich dann ein und verspinnt die Seiten. Die Raupe verkleinert sich durch Entwässerung, um sich vor Frostschäden zu bewahren. »Winterlager« mit diesem Begriff assoziere ich so etwas wie Dreißigjähriger Krieg, Hibernaculum klingt verheißungsvoller: wie Tabernakel, nach zart-wohligem, festen, heiligenSchlaf. Ich werde es suchen gehen.

Die Gemarkung Zankföhrle gehört zu meiner wöchentlichen Laufstrecke, und bei meiner Laufrunde habe ich die Camillas zuerst entdeckt. Einmal habe ich ein Stück Käse, ein Allerwelt-Rustique aus dem Supermarkt, eingesteckt, der als Lockstoff gelten soll, unterbrach mein Jogging und blieb stehen. Nach wenigen Minuten flog mich prompt eine Camilla an, die sonst in ihrem chaotischen Fluge kaum mit den Augen zu fassen ist. Ich blieb verwurzelt wie eine Pflanze und bot den salzigen Schweiß zum Saugen. Gibt es ein prickelnderes Erlebnis? Gehen hier nicht Wunsch-Träume in Erfüllung? Wird hier nicht Eingebildetes real? Sublimität, Erhabenheit & Einheits-Begehren – Ereignet es sich nicht hier? Und nur der Schweiß als kostenloses Zahlungsmittel, um solche Einheit mit der Welt zu spüren. (Andreas Mahler)


4

Eine Aschgraue Sandbiene für den Giersch.

Den meisten Gartenbesitzern ist der Gewöhnliche Giersch ein Ärgernis. Nicht willkommen breitet er sich durch seine unterirdischen Triebe im Garten aus und hat den Ruf eines auszurottenden Unkrautes. Wer ihm Herr werden will, hat allerdings schlechte Karten. Denn die Pflanze soll auf die handelsüblichen Herbizide gar nicht reagieren. Nicht mal Glyphosat soll das Aegopodium, der Ziegenfuß, vernichten. Und Aushacken reizt ihn eher zu Triebvermehrung. Zwei Jahre mit einer Plane überdecken, soll der Pflanze den Garaus machen Aber muß das sein? Was sonst tun?

Zumindest sich nicht ärgern. Denn Aegopodium podagraria, so der komplette lateinische Artname, hat seine Vorzüge. Während die Blattgestalt eben den Namensgeber an einen Geissfuß erinnert hat, verweist das Beiwort auf die schmerzlindernde Wirkung bei Gicht (Podagra) und Rheumatismus. Zumindest in der Volksmedizin vergangener Jahrhunderte. Junge Blätter eignen sich vorzüglich als wohlschmeckende Rohkost – nicht nur für Kaninchen. Petersilie- und Mangogeschmack werden den Blättern nachgesagt. Ich werd’s nochmal nachschmecken. Ältere Blätter geben als Wildgemüse ein spinatähnliches Mahl ab. In Kriegs- und Krisenzeiten war (und ist?) der Giersch ein unverwüstlicher Vitaminlieferant durchs ganze Jahr, der kaum standörtliche Ansprüche stellt und ob seines dreieckigen Stengels auch kaum zu verwechseln ist. Bequemstes Gemüseziehen also.

Ich lasse in stehen und wachsen nicht nur als stille Reserve, sondern vornehmlich aus Anschauungsgründen – wegen seiner schönen Doldenblüten, die ab Mai / Juni vor allem Wildbienen oder auch Schwebfliegen zu Hauf anlocken. Der Giersch ist ein Schule des Sehens. (Eine Kunstkennerin bekundete mir, dass der Garten von Monet voller Giersch gewesen sei.) Die Blüte ist unscheinbar, aber blütenrein weiß. Man muß schon nahe ran, um die Einzelblüte zu goutieren, die für mich schöner und reizvoller als manche fette Zuchtblume. Auch die kümmelähnliche Spaltfrucht macht sich später ganz gut doldig unter blauem Frühspätsommerhimmel aus.

Auf dem Bild ist wahrscheinlich die Aschgraue Sandbiene, Andrena cineraria, zu sehen, die sich am Giersch labt. Ich bin allerdings kein Wildbienenspezialist und kann mich täuschen. Aber ganz falsch liege ich sicherlich nicht. Der aschgraue Flaum ist doch gut zu erkennen. Unsere Andrena ist ein Allrounder, besucht aber ganz gerne Doldenblütler wie meinen Giersch. Die Art fliegt in einer Generation pro Jahr von März bis Ende Mai. Jetzt, im Juni, da ich diesen Text schreibe, dürfte sie verschwunden sein, die Nachkommen wohlverwahrt in unberührter, unbeackerter Erde. Andrena cineraria brütet in Erdnester, die sie 10 bis 25 cm eingraben, mit vielleicht zwei Brutkammern. Diesbezüglich sind sie wenig anspruchsvoll. Sie vermehren sich dort, wo sich die Gelegenheit bietet. Haben auch keine specielle Nektarquelle. Eine Allerweltswildbiene also, wenn man so will. Ach, kennte doch jeder Schüler nicht nur den Pythagoras sondern nur eine solche Wildbienenart dem Namen nach. Nicht auswendig, sondern inwendig. Es gäbe eine Auswahl von zirka 500 Bezeichnungen. In der Wutachschlucht soll’s alleine 170 verschiedene Arten geben. Käme dann noch ein wenig ästhetische Unkrautpflege à la Giersch dazu: die Welt wäre verträglicher und nicht nur rechtwinklig triebgesteuert. (Andreas Mahler)


3

Anläßlich einiger Bläulinge am Buchberg bei Blumberg.

Für den Wanderer ist Scheiße – Pardon: ein Kothäuflein – auf einem Feldweg manchmal doch von Vorteil. Führt er nämlich an Wiesen vorbei, die nicht überdüngt sind und zudem Kleearten aufweisen, kann es sein, dass die Männchen des Hauhechelbläulings auf liegengebliebenem Kot Feuchtigkeit und Nährstoffe aufsaugen. Die männlichen Falter sind kaum zu übersehen, treten sie doch in Gruppen auf und lassen sich auch so schnell nicht verscheuchen. Bläulinge zeichnen sich oft durch Dimorphismus aus, d. h. die Weibchen haben eine andere Flügelzeichnung – bei unserer Art eben nicht die  charakteristische, durchgehend blaue Schuppenfärbung der Oberseite, und die Falterin lebt auch versteckter.

Der Hauhechelbläuling wird manchmal auch als „Gemeiner Bläuling“ bezeichnet. Lateinisch heißt er Polyommatus icarus – „vieläugiger Ikarus“. Die beiden deutschen Namen sind nicht ganz glücklich gewählt. Zum einen dient der Hauhechel (Ononis espinosa) nur gelegentlich zur Eiablage des Falters und als „gemein“, also im Sinne von überall anzutreffen, kann der Schmetterling Anfang des 21. Jahrhunderts nun ganz und gar nicht mehr bezeichnet werden. In flurbereinigten Arealen mit intensiver Landwirtschaft fehlt er meist ganz oder ist selten anzutreffen. In heißen Frühlingen fliegt die erste Generation dieses Bläulings bereits Anfang Mai, so wie dieses Jahr. Ich habe den Falter am 3. Mai am Südabhang des Buchbergs bei Blumberg angetroffen (unbedingt empfehlenswerte Wanderung Fützen, Buchberg, Epfenhofen & retour auf verschiedenen Varianten). Der Schmetterling lebt in blumenreichen, also nicht überdüngten Glatthaferwiesen und in herbizidfreien Feld- und Wiesenrainen, versaumten Magerrasen usw. und kann sogar innerhalb von Ortschaften vorkommen. Die Eiablage ist in nicht zu gepflegten Gärten beobachtet worden. Ob die Larvalentwicklung hier abgeschlossen werden kann, entscheidet der nächste Einsatztermin des Rasenmähers, wie es in Bd. 2 von „Die Schmetterlinge Baden-Württembergs“ heißt. 

Noch einige ökologische Details könnten hier ausgebreitet werden. Erinnert sei stattdessen einmal an den Schriftsteller Vladimir Nabokov, da er Spezialist für Bläulinge war und deren Systematik durch seine Forschungen entscheidend vorantrieb. Ab dem Jahre 1943 führte er als Emigrant für 5 Jahre ein Dreifachleben als Lepidopterologe, als Schriftsteller und als Lehrer für Literatur und Russisch. Am Museum für Vergleichende Zoologie in New York arbeitete er zuerst unentgeltlich, später bekam er ein bescheidenes Forschungsstipendium. DNA-Analysen konnten damals noch nicht durchgeführt werden. Die Abgrenzungen der einzelnen Arten erfolgten durch morphologische Unterscheidungen. Ein wesentliches Kriterium bei Bläulingen liegt in der Form der männlichen Geschlechtsteile, deren Unterschiede auch die Artzugehörigkeit klassifiziert. Nabokov hat sie akribisch unterm Mikroskop untersucht und damit die evolutionäre Systematik der Bläulinge modifiziert. Von seinen wissenschaftlichen Zeichnungen, für die er Karteikarten benutzte, sind über 1000 erhalten. Sie habe eine ganz eigene Ästhetik. Auch das typische Geschlechtsteil unseres gemeinen Bläulings vom Buchberg hat er gezeichnet und schattiert. Abgebildet ist hier indes das Teil von Polyommatus argyrognomon wegen seiner farbigen Reproduktion. Nabokov war stets an lokalen Unterarten der Schmetterlinge interessiert. Gefunden habe ich eine Skizze Nabokovs mit einer Eingrenzung von Baden. Wer wird mir verdenken, daß ich den letzten Punkt der südöstlichen Grenzlinie natürlich als Stühlingen identifiziere, das er passiert hat, als er in den1920er Jahren von Waldshut nach Konstanz gefahren ist. In seinen schriftstellerischen Werken (Erzählungen, Romane, Essays) hat Dieter E. Zimmer, Herausgeber der Gesamtausgabe und sein Übersetzer, etwa 700 Referenzen ausfindig gemacht, die mit Lepidoptera und Lepidopterologen zu tun haben. Schmetterlinge stehen in den poetischen Werken Nabokovs oft als  Symbol für die Grenze des Wissbaren, die er erweitern wollte.

„Ein Dutzend kleiner Schmetterlinge, alle von einer Sorte, hatten sich auf dem feuchten Kotfleck niedergelassen, die Flügel aufrecht und geschlossen, so daß ihre bleichen Unterseiten mit dunklen Punkten und winzigen, orangengesäumten Pfauenflecken entlang der hinteren Flügelränder zu sehen waren; ich störte einige von ihnen, so daß sie die Himmelfarbe ihrer Oberseiten zeigten und wie blaue Schneeflocken umherstöberten, bis sie sich von neuem niederließen.“ Buchberg- oder Romanerlebnis? –  gleich gültig.

Wer ein neueres Buch über Schmetterlinge lesen will, greife zu Anita Albus, „Sonnenfalter und Mondmotten“. Hier wird naturkundliches Wissen und historische Bildung mit dem genauen Blick der Künstlerin verknüpft. Einzelne Schmetterlinge sind hier nicht photographisch, sondern gemalt durch Albus dargestellt. Auch darin unterscheidet sich die Ausgabe von den gängigen Photo-Sachbüchern. Wer „Sonnenfalter und Mondmotten“ gelesen oder auch nur kursorisch in „Die Schmetterlinge Baden-Württembergs“ geblättert hat, kann sich der Einsicht nicht erwehren, dass wir mit unserer Art des Wirtschaftens zwar einen Konsum-Wohlstand geschaffen, gleichzeitig einen unerhört schönen, evolutionär unersetzlichen Lepidoptera-Wohlstand verkannt und im wörtlichen Sinne abgeschafft haben. (Andreas Mahler, Mai 2020)

Nachtrag 21. März 2024: Heute im Garten ein Bläuling-Männchen gesichtet. Wahrscheinlich ein Nachkomme von einem Polyommatus icarus-Weibchen, das an den Hornklee-Beständen Eier abgelegt hat. Die Raupe dürfte nah überwintert haben. Daß ein Bläuling am 21. März bereits fliegt, ist erstaunlich. In der bisherigen Literatur ist gemeinhin von Ende April / Anfang Mai für ein erste Flugzeit die Rede.


2

Der Spitz-Ahorn als Hoffnungsschimmer im Wald.

Die Wälder rund um Stühlingen zeigen erste Blütenfarbtupfer. Etwa das Vogelkirschen-Weiß und das Schlehen-Weiß. Letzteres fast schon verweht. Unübersehbar aber auch die hellgrüngelblichen Kronenbilder, gemalt von den Blütenständen des Spitzahorns, Acer platanoides, in den Waldhängen. Seine Blüten treiben zeitlich vor den zartgrünen Blättern aus. Die  Knospenschuppen stehen noch. Der satte Farbeindruck entsteht durch die traubigen Blütenstände, die in ihrer Gesamtheit gemütshebende Stimmung hervorrufen. Die meisten anderen Bäume sind ja noch kahl. Die forstwirtschaftlich Bedeutung des Spitzahorns gegenüber dem Bergahorn war bis jetzt geringer. Letzterer wird älter und größer. Ob seines Frühjahrsschmuckes wurde der Spitzahorn oft in Parks angepflanzt. Es gibt dort Varietäten mit rotbraunen Blättern. Der eine oder andere Privatwaldbesitzer freut sich nicht nur über die zeitige grüngelbe Blütenpracht in seinem Bestand. Da die meisten Fichten wegen Käferbefall eingegangen sind und die in unserer Gegend nicht eben seltenen Eschen ob des von Asien eingeschleppten Pilzes in den nächsten Jahren fast alle absterben werden, steht der Spitzahorn für einen waldlichen Hoffnungsschimmer. Seine Schösslinge, die derzeit verstreut im Wald zu finden sind, können anders als derzeit durchaus einmal als bestandsbildend funktionieren. Im Verbund mit Vogelkirsche, Seidelbast ergäbe dies für Waldgänger auf Kalkboden, die ihre Sinne auch jenseits forstlicher Industriewirtschaft pflegen, neue Stimmungslagen. Falls dann noch die Buchen, die zeitlich etwa ihre hellbraunen Knospen mit der Spitzahornblüte ausbilden, den vermehrt auftretenden Trockenperioden standhalten, bekäme der eine oder andere Waldabschnitt, der in diesem Sinne gefördert wird, eine völlig neue Physiognomie. (Andreas Mahler)


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Das Vergnügen Durchlaucht zu sein.

Wer derzeit in den Wald hineingeht, um beim coronagerechten Spaziergang Bärlauch zu sammeln, findet manchmal die gewöhnliche Schuppenwurz (Lathraea squamaria) vereinzelt in den knoblauchduftenden Gemüsefeldern. Ihre hellrosa bis leicht violetten Blüten bilden einen feinen Kontrast zur grünen Blattumgebung. Sie wächst bei uns in Auen- oder Schluchtwäldern auf sickerfrischen, nährstoff- und kalkhaltigen Ton- und Lehmböden im Halbschatten. In älteren Bestimmungsbüchern ist sie noch unter der Familie der Scrophulariaceae, der Braunwurzgewächse, eingeordnet. Neuerdings zählt man sie zu der Familie Orobanchaceae, der Sommerwurzgewächse. Aber das sind nomenklatorische Quisquilien. Die Schuppenwurz lebt ohne Blattgrün, kann also kein Sonnenlicht assimilieren. Sie schmarotzt auf Wurzeln von Erlen, Haseln, Buchen und Weiden. Kleine Saugorgane der Wurzeln zapfen den Nährstoffstrom des Wirtes an. Spezielle Wasserdrüsen regeln den Wassertransport und ersetzen so den Transpirationssog, der normalerweise von den grünen Blättern ausgeht. Die Schuppenwurz blüht von März bis April, wenn die Wirtsbäume mit ihrem Wassertransport beginnen. Blühreif wird die Sommerwurz etwa nach 10 Jahren. In ungünstigen Perioden bilden sich die Blüten unterirdisch. Bestäubt wird dann kleistogam, das meint ohne Befruchtung mit Hilfe von dritten. Oberirdisch sind dafür Hummeln und Bienen zuständig. Proterogyne Blüten werden auch durch den Wind bestäubt (Anemophilie). Der deutsche Namen leitet sich von den fleischigen, weißlichen, stärkehaltigen Speicherschuppen am Rhizom ab. Der Gattungsname Lathraea rührt vom altgriechischen „lathraios“ her, zu deutsch „heimlich“, „verborgen“, und ist auf die unterirdische  Lebensweise der Pflanze gemünzt. „Lathriä“ ist übrigens auch Beiwort der Aphrodite. Die blaßrosa-hellvioletten Blüten, die eben auch im Verborgenen blühen, dürften den gelehrten Namensgeber vielleicht auch diesbezüglich inspiriert haben. Der Bärlauch hat andere Qualitäten. In Zeiten, in denen man Distanz halten muss, darf man ihn ungehemmt genießen. Keiner muß sich ob seines „durchlauchten“ Zustandes genieren. (Andreas Mahler)